Ein Jahr Ukrainekrieg: Rück- und Ausblick auf einen verhängnisvollen Konflikt

Am 24. Februar 2022 trat ein weltpolitisches Ereignis ein, das bis heute oftmals als „Zeitenwende“ bezeichnet wird. In den frühen Morgenstunden dieses besagten Tages überfiel die Armee der Russischen Föderation völkerrechtswidrig die Ukraine in einem Zangengriff aus drei Himmelrichtungen kommend: Von Norden in Richtung der Hauptstadt Kiew, von Osten in Richtung Donezk und Luhansk und von Süden in Richtung Mariupol und Cherson. In Panik flüchteten mehr als 15 Millionen Menschen, davon 8 Millionen ins Ausland, der Rest als Binnenflüchtlinge. Putins erklärtes Ziel dieser sogenannten „militärischen Spezialoperation“ sollte eine „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine sein, um die geopolitischen Interessen der Russischen Föderation zu wahren. Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels entschied sich die russische Militärführung für einen raschen Enthauptungsschlag gegen die Regierung in Kiew. Nicht nur Putin, sondern auch westliche Beobachter gingen davon aus, dass dieser Krieg in nur wenigen Wochen, womöglich sogar in wenigen Tagen zugunsten Russlands entschieden sein würde, doch es sollte ganz anders kommen als von Putin ursprünglich geplant. Jetzt im zweiten Jahr des Krieges steht die Welt nicht mehr vor einer Zeitenwende, sondern vielmehr vor einem Scheideweg: Soll der Westen seine bisherige Politik der wirtschaftlichen Sanktionen bzw. der militärischen Waffenlieferung fortführen oder ist jetzt der richtige Zeitpunkt für die Rückkehr an den Verhandlungstisch gekommen?

 

Putins fatale Fehleinschätzung und ihre geopolitischen Folgen

Der Verlauf der Invasion entwickelte sich für Russland nicht nur militärisch zu einem verhängnisvollen Desaster, sondern vor allem auch politisch. Obwohl Putin der Ukraine jegliche eigenständige Identität und damit eine historische Existenzberechtigung abgesprochen hatte, bewirkte seine Invasion das genaue Gegenteil davon, nämlich eine geradezu identitätsstiftende Entschlossenheit des ukrainischen Volkes, ihr Land vehement verteidigen zu wollen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verstand es, die Bevölkerung mit geschicktem medialem Auftreten zum Widerstand zu ermutigen, wobei hierzu der gezielte Einsatz von Social Media eine entscheidende Rolle spielte. Auch das erklärte Kriegsziel, die Ukraine zu entmilitarisieren, schlug fehl, zumal mittlerweile die Ukraine von allen Seiten mit Waffen beliefert wird. Letztendlich verfehlte Putin auch das unausgesprochene Ziel, die NATO an ihrer Osterweiterung zu hindern, da aufgrund der Invasion in der Ukraine die Länder Finnland und Schweden ihre Neutralität mittlerweile aufgegeben haben. Der Russland-Experte Gerhard Mangott geht davon aus, dass diese anfänglichen politischen Ziele auch nicht mehr zu erreichen sind. Diese gravierenden Fehleinschätzungen Putins haben auch weitreichende geopolitische Konsequenzen zur Folge: Die Erweiterung der NATO-Grenzen nach Osten hin zu Russland dürfte auch eine neue Rüstungsspirale nach sich ziehen, insbesondere durch die Aussetzung der Umsetzung des Abrüstungsabkommens „New START“ seitens Russland.

 

Auch die westliche Welt unterlag Fehleinschätzungen und zahlt dafür einen hohen Preis

Zwar reagierte die westliche Welt umgehend mit Wirtschaftssanktionen auf die völkerrechtswidrige Invasion Russlands, allerdings blieb die Wirkung derselben weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück. Mittlerweile wurde bereits das zehnte Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet, wobei die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Beginn des Kriegs davon ausging, dass die russische Wirtschaft binnen weniger Monate in sich kollabieren würde. Vasily Astrov, Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), hält hingegen in seiner jüngsten Analyse fest, dass der Westen mit seinem Wirtschaftskrieg gegen Russland gemessen an seinen Zielen vorerst gescheitert sei, zumal Putin einerseits die immer höheren ökonomischen Kosten bewusst in Kauf genommen habe und andererseits, weil seine Fähigkeit, die riesige Militäroperation zu finanzieren, erst in ein paar Jahren merklich leiden würde. Bis dahin dürfte der Ukrainekrieg aber längst entschieden sein.

Der Ukrainekrieg hat zudem auch massive Auswirkungen auf die weltweite Wirtschaftsleistung. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt in seiner Studie zum Ergebnis, dass ohne den Krieg die Wirtschaftsentwicklung um 1,6 Billionen Dollar höher ausgefallen wäre. Sollte sich der Krieg in der Ukraine auch in diesem Jahr fortsetzen,  könnten sich heuer die weltweiten Produktionsausfälle auf nochmals rund eine Billion Dollar belaufen.

Als besonders umstritten erwiesen sich auch die Waffenlieferungen an die Ukraine, die ein unkalkulierbares Risiko für eine militärischen Eskalation in sich bergen. Zwar ist es gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen völlig legitim, dass ein Staat von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch macht, allerdings fällt auf, dass die Forderung nach militärischer Unterstützung seitens Selenskyj seit Kriegsbeginn immer zweifelhaftere Ausmaße annimmt: Die Lieferung von Kampfpanzern erscheint angesichts deren begrenzter Wirkungsweise noch weitestgehend unproblematisch zu sein, die Forderung nach Kampfjets, Langstreckenraketen oder gar nach völkerrechtlich geächteter Streumunition oder Phosphorwaffen hingegen nicht. An dieser Stelle muss auch betont werden, dass westliche Waffenlieferanten über keine klar erkennbare Strategie verfügen, wozu eigentlich die Ukraine militärisch befähigt werden soll. Zu einer Rückeroberung der seit dem Kriegsbeginn von Russland besetzten Gebiete? Zu einer vollständigen Vertreibung der russischen Besatzer aus der Krim und dem Donbass? Zu einem präventiven Militärschlag auf russischem Territorium oder gar zur Herbeiführung eines Machtwechsels in Moskau? Der Sprengstoffanschlag auf die von Russland errichtete Kertsch-Brücke, die Sprengung eines Treibstoff-Depots in der auf russischem Staatsgebiet gelegenen Stadt Belgorod oder der Einschlag einer vermutlich ukrainischen Abwehrrakete auf polnischem Territorium verdeutlicht, wie rasch defensive Kriegshandlungen aus dem Ruder laufen können. Mit dieser Unklarheit bezüglich der strategischen Zielsetzung von Waffenlieferungen steigt auch das Risiko einer unkalkulierbaren und grenzüberschreitenden Eskalation des Kriegs, in die früher oder später auch der Westen hineingezogen werden könnte. Es muss daher das Gebot der Stunde sein, so schnell wie möglich wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die letzten Friedensverhandlungen waren erstaunlich weit gediehen und sahen immerhin eine Abkehr von einem NATO-Beitritt der Ukraine sowie eine vorübergehende Sonderverwaltung der Krim für 15 Jahre vor. Daher wäre es dringendst vonnöten, die damals in die Sackgasse geratenen Verhandlungen an dieser Stelle wieder aufzunehmen.

 

Chinas 12-Punkte-Plan – Ein Auftakt zu einer neuen Friedensinitiative?

Pünktlich zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns hat die chinesische Regierung der Weltöffentlichkeit ein Positionspapier mit 12 Punkten vorgelegt, welches nach anfänglicher Skepsis nicht nur vom russischen Außenministerium, sondern auch von der Ukraine grundsätzlich begrüßt wurde. Der erste Punkt sieht die Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Länder vor. Weiters wird darin eine Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges, die Einstellung der Feindseligkeiten, die Wiederaufnahme der Friedensgespräche, die Beilegung der humanitären Krise, der Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen, die Sicherheit von Kernkraftwerken, die Verringerung der strategischen Risiken, die Erleichterung der Getreideausfuhr, die Beendigung einseitiger Sanktionen, die Stabilisierung der Industrie- und Lieferketten sowie die Förderung des Wiederaufbaus nach Konflikten gefordert. Amerikanische und europäische Beobachter erhoben allerdings Zweifel daran, ob China als neutraler Vermittlungspartner überhaupt in Frage käme und bemängelten darüber hinaus, dass das Positionspapier eine Konkretisierung der Vorschläge vermissen ließe. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass sich die Staaten des Westens durch ihre Sanktionierungen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine bisher alles andere als neutral verhalten haben, ganz zu schweigen davon, dass bislang noch niemand sonst einen Friedensplan vorgelegt hat. Zudem muss auch festgehalten werden, dass eine vorzeitige Konkretisierung der Vorschläge mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Ablehnung seitens der Kriegsparteien führen würde, ehe die Verhandlungen überhaupt begonnen haben. Sowohl die Konfliktparteien als auch die westliche Welt werden sich wohl darauf einstellen müssen, dass nicht ein „Patentrezept“, sondern nur ein längerfristiger Verhandlungsprozess zum erhofften Frieden führen wird. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ließ die Weltöffentlichkeit zumindest wissen, dass das von China vorgelegte Positionspapier zwar noch kein Friedensplan sei, sich aber als Diskussionsgrundlage eignen würde und schlug hierfür einen China-Gipfel vor.

 

ÜBER DEN AUTOR

Ronald H. Tuschl (Mag. Dr. phil., BEd MA) lehrte und forschte von 1996 bis 2013 an der European Peace University (EPU) und am Austrian Study Center for Peace and Conflict Resolution (ASPR) in Stadtschlaining. Er ist seit 2015 als ständiger Lehrbeauftragter am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung (IBP) an der Karl-Franzens-Universität Graz tätig.