Jedes Frühjahr findet in Deutschland die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung statt – dieses Jahr in Berlin-Spandau. Aus dem Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung heraus organisierten Claudia Brunner und David Scheuing ein Panel, um gegenwärtig in der Öffentlichkeit wie im akademischen Diskurs marginalisierten pazifistischen und antimilitaristischen Stimmen einen Raum zu geben. Der „Blaue Saal“ war bis zum letzten Stuhl besetzt, als Michael Berndt, Christine Schweitzer und Julia Nennstiel ausloteten, was diese Stimmen heute wollen, können und brauchen.
Friedensforschung in Zeiten des Krieges
Spätestens seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine scheinen pazifistische und antimilitaristische Positionen in der Öffentlichkeit endgültig auf ‚verlorenem Posten‘ zu stehen. Die beschleunigte, auch diskursive, kognitive und affektive, Militarisierung führt nicht mehr nur zu Ignoranz oder Verharmlosung. Sie weitet den Raum für die Diskreditierung und Delegitimierung von Positionen und Personen. Zugleich wird eine genuine ‚europäische Friedensordnung‘ angerufen, um Aufrüstung und Militarisierung zu rechtfertigen – im Namen von Werten, Menschenrechten und sogar Feminismus.
Auch in der Friedens- und Konfliktforschung spiegelt sich dieser widersprüchlich anmutende Wandel. Angesichts des Krieges ‚vor der europäischen Haustür‘ ringen Forschende, Lehrende und Praktiker*innen der Friedensarbeit verstärkt auch um ihre Position. Darüber hinaus hat post- und dekoloniale Friedens- und Konfliktforschung in den letzten Jahren problematisiert, dass Bekenntnisse zu Gewaltfreiheit und Pazifismus oft einem epistemisch wie geopolitisch fundierten eurozentrischen Privileg geschuldet sind, das Werte beschwört, um Interessen unsichtbar zu machen. Der europäische Frieden kann nur um den Preis globaler Ausbeutungsverhältnisse und deren auch bewaffneter ‚Verteidigung‘ im fernen Anderswo aufrechterhalten werden. Es stellt sich also die Frage: Haben pazifistische und antimilitaristische Positionen noch oder wieder einen substantiellen Beitrag zu einer kommenden post-eurozentrischen Friedensordnung zu leisten?
Gewalt(-freiheit) – Pazifismus – Antimilitarismus
Heute als Lehrer in Osnabrück tätig, blickte Michael Berndt in seinem Beitrag auf mehrere Jahrzehnte der (bundes-)deutschen Friedensforschung zurück. Einst wie heute sei diese keineswegs deckungsgleich mit Pazifismus und Antimilitarismus, und ‚die Gewaltfrage‘ habe diese immer schon intensiv beschäftigt, wenn nicht gar gespalten (Stichworte Antikolonialismus, Kriege in Jugoslawien etc.). Dass also diese naturgemäß konfliktträchtigen Diskussionen im Kontext des Ukraine-Krieges wieder hervorkommen, sei nicht verwunderlich. Zur Analyse dieses und anderer Kriege schlägt Berndt vor, sich wieder stärker politökonomischen und ideologiekritischen Ansätzen zuzuwenden, die in der gegenwärtigen Forschungsdebatte wenig Relevanz besitzen – nicht zuletzt auch deshalb, weil damit in Zusammenhang stehende antimilitaristische und pazifistische Positionen heute weitgehend marginalisiert sind. So könnten die interessengeleiteten Zusammenhänge außen- wie innenpolitischen Handelns wieder stärker in den Fokus treten und die Kritik daran wieder zu einem Grundrüstzeug wissenschaftlicher Analyse werden.
Als ein massives Problem – für ‚beide Seiten‘ – konstatierte die Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung Christine Schweitzer, dass Friedensforschung und Friedensbewegung immer weniger miteinander verschränkt seien – personell, institutionell-strukturell und schließlich auch diskursiv. Ansätze der zivilen Konfliktbearbeitung, des gewaltfreien Widerstands und anderer nicht-militärischer Theorien und Praktiken zu erforschen, an ihrer Ausgestaltung solidarisch-kritisch (mit) zu arbeiten oder sie voranzubringen, fände immer weniger Resonanz in der Friedensforschung. Andererseits bezögen sich auch in der Friedensbewegung aktive Menschen immer weniger auf eben diese Forschung, was die Theorie-Praxis-Distanz ebenfalls vergrößere– lediglich prominente Zahlenwerke wie die Berichte des SIPRI oder der Rüstungsexportbericht der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung Deutschland (GKKE) würden registriert. Die Stärken empirisch fundierter und theoretisch gesättigter Forschung entgingen der Friedensbewegung somit als Argumentations- und auch (Selbst-)Kritikzusammenhang. Die Verantwortung, wieder stärker aufeinander zu- und miteinander gegen die Normalisierung des Militärischen vorzugehen, liegt wohl auf beiden Seiten.
Abschließend gab die Doktorandin Julia Nennstiel einen Überblick über pazifistische und antimilitaristische Forschungsansätze im aktuellen englischsprachigen Fachdiskurs. Sie analysierte dazu systematisch alle Beiträge, die in einem Zeitraum von fünf Jahren veröffentlicht worden waren. Diese Beiträge befinden sich diskursiv nicht nur in einer Position der quantitativen Marginalität, wie Nennstiel feststellte, sondern auch der qualitativen Isolation in Relation zu anderen Teildiskursen der Friedens- und Konfliktforschung und der Internationalen Beziehungen. Vielversprechend ist jedoch die in letzter Zeit stattfindende Verschränkung pazifistischer und antimilitaristischer Perspektiven mit feministischen, post- und dekolonialen sowie indigenen Ansätzen, die sich mit ihrer Kritik am immanenten Andro- und Eurozentrismus (auch kritischer Debatten) von bestehenden Perspektiven unterscheiden. Hierin sah Nennstiel zum einen qualitativ neuartige Pazifismen hervortreten (beispielsweise nicht moralisch, sondern empirisch gewaltkritisch begründete), und zum anderen zeigten sich Texte in einem produktiven Austausch feministischer, antirassistischer und klassisch antimilitaristischer Positionen und begegneten somit auch einem ‚falschen Gegensatz‘ als einander unversöhnlich gegenüberstehend konstruierter Ansätze.
Denn allen diesen Zugängen ist auch gemeinsam: Sie haben den ‚Posten‘ nie bezogen, sie haben ihn schon immer (herrschafts-, gewalt- und ausbeutungs-)kritisch von der Seite betrachtet und niederzureißen versucht. So können sie auch nicht auf ‚verlorenem Posten‘ stehen, so David Scheuing in seiner Diskussion aller drei Panelbeiträge. Pazifismus und Antimilitarismus seien heute integriert und intersektional zu denken, um darin auch die Gewaltaversität als grundlegende Dimension von Friedensforschung in der nötigen Breite und Tiefe denken und ausbuchstabieren zu können.
Friedensforschung weiter denken – auch im Konflikt
Die von den zahlreichen Anwesenden diskutierten Fragen müssen offensichtlich weiter im akademischem Binnenraum kontrovers diskutiert werden, um letztlich auch in einer breiten Öffentlichkeit den Raum für Kritik am Status quo einer europäischen und globalen (Un-)Friedensordnung mit starken Stimmen (wieder) zu beleben:
- Was ist mit diesen, in der Disziplin einst prominenten und sie nicht zuletzt mitbegründenden, Positionen in den vergangenen Jahrzehnten geschehen? Weshalb scheinen einst starke antimilitaristische und pazifistische Positionen für das Fach verzichtbar, anachronistisch oder gar hinderlich geworden zu sein?
- Wie kann Antimilitarismus und Pazifismus post- und dekolonial sowie feministisch-intersektional neu artikuliert werden? Kann dies binnenakademisch geschehen oder muss eine solche Aktualisierung über aktive und global vernetzte Friedenspraxis erfolgen?
- Was kann die wissenschaftliche Bedeutung eines solch normativ positionierten Forschens sein, nicht nur für den konkreten Anlassfall einer notwendigen Positionierung, zu der viele Friedens- und Konfliktforscher*innen nach Jahren der öffentlichen Marginalisierung derzeit aufgefordert werden, sondern darüber hinaus? Was sind die größten Herausforderungen in dieser Auseinandersetzung?
Dass das Bedürfnis nach solchen Debatten groß ist, zeigte sich nicht nur an der großen Anzahl von Teilnehmer*innen an der Diskussion, sondern auch daran, dass die Menschen den Raum zum Ende hin gar nicht mehr verlassen wollten. Es bedarf also unbedingt der Fortsetzung – das neu gegründete Journal for Pacifism and Nonviolence könnte ein guter Ort dafür sein.
ÜBER DIE AUTOR*INNEN
Claudia Brunner ist habilitierte Politologin und als Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, der Universität Klagenfurt tätig. Arbeitsschwerpunkte siehe www.epistemicviolence.info.
David Scheuing hat einen MA-Abschluss in Friedens- und Konfliktforschung (Marburg) und ist Politikwissenschaftler und Geograf. Er ist seit vielen Jahren in der Friedensbewegung aktiv und derzeit als verantwortender Redakteur der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden in Lüchow tätig.