Anfang der 1970er Jahre trat die Kritische Friedensforschung an, um der traditionellen Friedensforschung eine emanzipatorische Perspektive entgegenzusetzen. 50 Jahre später ist viel Kritik den Mühlen der wissenschaftlichen Reproduktion zum Opfer gefallen und es wird gar die Frage gestellt, ob es nicht notwendig wäre, bestimme (Verteidigungs-)Kriege zu unterstützen. Dem setze ich die These entgegen, dass es eher notwendig ist, die Wurzeln der kritischen Friedensforschung zu rekapitulieren und zu aktualisieren, um sich aktuellen Entwicklungen stellen zu können, ohne vor ihnen zu kapitulieren.
Wurzeln
In der Erklärung zur Friedensforschung der Tagung „Zum Stand kritischer Friedensforschung“ vom 24./25. April 1971, der sog. Wannsee-Erklärung, dem Gründungsdokument der kritischen Friedensforschung im deutschsprachigen Raum, hieß es, dass „Kritische Friedensforscher () eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab(lehnen).“ Sie wollen „emanzipatorische Lernprozesse in Gang (…) setzen“ und verstehen sich als „wissenschaftliche Parteigänge … von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten.“ Im Zentrum stand „Forschung über Ursachen und Bedingungen von Gewaltanwendung“ mit dem Ziel der „Verminderung organisierter Gewaltpotentiale“. Dies sollte geschehen mit „Hilfe von Ideologiekritik und Kritik politischer Ökonomie“.
Problem
Die Friedensforschung hat sich seitdem zwar weiterentwickelt, aber überwiegendermaßen nicht in Richtung der vier kritischen Dimensionen – Gewaltkritik, Herrschaftskritik, Ideologiekritik und vor allem Kritik der politischen Ökonomie – und v.a. nicht in Richtung ihres Zusammenhangs. Klar, Gewalt stand immer wieder im Fokus der Diskussion und Ideologiekritik wurde fortentwickelt. Nur, inwieweit Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zusammenhängen und welche Rolle bei deren Analyse Diskurse/Ideologien (Ideologiekritik) und materielle Reproduktionsbedingungen sowie die daraus resultierenden objektiven Interessen (Kritik der politischen Ökonomie) spielen, ist aus dem Blick geraten. Und so droht Friedensforschung wieder zur ggf. gewaltlegitimierenden Befriedungsforschung zu werden.
Lösung? Back to the roots!
Um dem entgegenzuwirken, erscheint es adäquater, dem Anspruch aus den 1970er Jahren als Gesamtkonzept zu folgen, dabei aber relevante Entwicklungen zu berücksichtigen, um nicht „Fehleinschätzungen“ zu wiederholen. Diesbezüglich ist zentral, auf die Gewaltdiskussion der 1970er Jahre einzugehen: Während die einen auf Gewaltfreiheit bei der Friedenssuche setzten, argumentierten andere, dass ggf. revolutionäre Gewalt notwendig sein kann, um ungerechte Verhältnisse zu überwinden. Dieser Disput erscheint fortgesetzt im Disput über Krieg als Mittel zum Frieden, im Kontext der jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre und nun im Angesicht des Ukraine-Krieges. Nur, zum einen hat sich gezeigt, dass revolutionäre Gewalt in der Regel nach ihrem Sieg in repressive Gewalt umschlug. Die These, mit revolutionärer Gewalt zum Frieden beizutragen, hat sich so selbst widerlegt. Zum anderen besteht der Unterschied zwischen den Gewaltlegitimationen darin, dass es in den 1970er Jahren um Gewaltanwendung von marginalisierten Gruppen ging, denen sich scheinbar keine anderen Möglichkeiten boten. Dagegen geht es seit den 1990er Jahren um Rechtfertigung von militärischer Gewaltanwendung souveräner Staaten, die bei ihrer (Gegen-)Gewaltanwendung aber nicht nur hehren humanitären Zielen, sondern auch eigenen Interessen folgen. Und wenn dann festgestellt werden kann, dass (Friedens-)Forschung im Vorfeld heißer Konflikte immer wieder auf die Eskalationsdimensionen hingewiesen hat, ohne dass die Regierungen konsequent deeskalierend wirkten, dann erscheint es wenig überzeugend, letztlich die Gewalt zu legitimieren, die eigentlich abgelehnt wurde.
Der Verweis auf den Unterschied in den Gewalt legitimierenden Diskursen tangiert natürlich auch die Dimension der Herrschaftskritik. Wenn vom Anspruch revolutionärer Gewalt heute Abstand genommen werden muss, dann sind herrschaftskritisch die Gewalt und sie tragende Akteure in den Fokus zu nehmen, die durchaus über andere Mittel und Ressourcen verfügen (könnten). Es muss also die Frage gestellt werden, warum – z.B. bezüglich des Ukraine-Krieges – Situationen eintreten, in denen bis weit in die Friedensforschung hinein – entgegen aller kritischer Argumente – (Gegen-)Gewalt als legitimes Mittel erscheint. Dies stellt nicht nur Fragen an die kriegerischen, sondern auch an die wissenschaftlichen Reproduktions- und Identitätsbildungsverhältnisse.
Um diese einer Klärung näherführen zu können, ist sowohl die Analyse von Diskursen und Argumentationen relevant als auch der Blick auf die materiellen Verhältnisse in Form einer historisch materialistischen Kritik der politischen Ökonomie. Während Ideologien/ Argumentationen/ Diskursen seit den 1970er Jahren den Kern der kritischen Auseinandersetzung ausmachten, blieb die Analyse der materiellen Verhältnisse seltsam unterbelichtet.
Materielle Verhältnisse, also Reproduktionsbedingungen und objektive Interessenslagen, bestimmen zwar nicht wie unsichtbare Hände die Politik, aber sie umreißen den Bereich, außerhalb dessen politische Maßnahmen derart negativen Einfluss auf das Wahlvolk haben, dass für die Entscheidungsträger:innen die Wiederwahl gefährdet erscheint. Um genau dies zu vermeiden, erscheint es ggf. opportuner, militärische Gewalt einzusetzen bzw. zu befürworten. Das heißt nun nicht, dass objektive Interessenlagen unveränderbar sind und der Einsatz militärischer Gewalt alternativlos ist. Nein, die Veränderung objektiver Interessen und die Abkehr von militärischer Gewalt erscheinen möglich, aber (tragfähig) nur über eine Veränderung der Reproduktionsbedingungen.
Die Veränderung von Reproduktionsbedingungen geschieht nun nicht nebenbei. Aber die Augen vor den aus den Reproduktionsbedingungen resultierenden Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zu verschließen, kann genau so wenig im Sinne Kritischer Friedensforschung sein wie Gewalt zu legitimieren, nur weil es gegenwärtig keine Alternativen zu geben scheint, wohl wissend, dass auf die Fehler der Politik aus Friedensforschungsperspektive immer hingewiesen wurde, die vermeintliche Alternativlosigkeit also Resultat der Politik ist.
Fazit
Gewalt- und Herrschaftskritik als Ansprüche und Ideologiekritik sowie Kritik der politischen Ökonomie als Ansätze zusammenhängend im Fokus zu behalten, macht m.E. Kritische Friedensforschung aus. Um genau die diskursiven wie materiellen Dimensionen von Gewalt und Herschaft und damit Unfrieden herausarbeiten zu können, ist ein Rekurs auf Ansätze und Ansprüche der Anfangsphase der Kritischen Friedensforschung notwendig.
ÜBER DEN AUTOR
Dr. habil. Michael Berndt; Oberstudienrat für Musik und „Politik und Wirtschaft“ in Nordhessen, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Mitglied des AK Herrschaftskritische Friedensforschung der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK).
Letzte Publikationen: Es geht gar nicht um Mali! Eine kritische polit-ökonomische Analyse des Bundeswehreinsatzes, in: Wissenschaft und Frieden 1/2023; S.43-47; Objektive Interessen in der deutschen Außenpolitik. Eine kritische Analyse; Wiesbaden 2023 (Springer VS)