Sind Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Ansätze nicht mehr zeitgemäß? Dieser Eindruck drängt sich auf angesichts aktueller Debatten um den Ukraine-Krieg und die ihm vorausgegangene Eskalationsspirale, in denen friedenslogische und deeskalative Standpunkte bestenfalls marginalisiert, gemieden, und nicht selten als romantisch und weltfremd abgestempelt und bisweilen auch dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet werden.
Die Zukunft der Friedensforschung im Lichte der Polarisierung
Im Lichte der – in der Tat gewichtigen – moralischen Verantwortung gegenüber den Menschen in der Ukraine galten bis zuletzt nur Überlegungen über das “wie” von Waffenlieferungen und Unterstützung der ukrainischen Regierung als diskutabel. Analysen zu möglichen Nebenwirkungen aktueller Politiken und zu Fehlverhalten im Verlauf der Eskalation sowie des zugrunde liegenden Konflikts haben bisher zu wenig ernsthafter Auseinandersetzung geführt. Vor allem die Debatte im deutsch(sprachig)en Kontext scheint von zwei Meinungen, bzw. Haltungen zum Ukraine-Krieg und damit von zwei Lagern dominiert zu sein: die der Befürworter*innen von Waffenlieferungen und die der Friedensbewegten.
Durch diese diskursive Vereinfachung und Dichotomisierung scheint ein konstruktiver Austausch kaum mehr möglich. Zudem verdrängt die Fokussierung auf den Ukraine-Krieg in öffentlichen Debatten andere Krisen aus der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, insbesondere die drängende Klima- und Biodiversitätskrise. Im medialen und politischen Kontext haben friedenswissenschaftliche Ansätze und Analysen es somit nicht geschafft, sich gegenüber Mainstream-Positionen zu behaupten. In einem World-Café-Format auf dem Kolloquium der AFK e.V. in Berlin Spandau wollten wir uns daher gemeinsam dieser Situation annehmen und selbstkritisch auf den Status Quo der Friedensforschung blicken, um daraus mögliche Schritte und Impulse für ihre Weiterentwicklung in Zeiten multipler Krisen abzuleiten. Die ca. 30 Teilnehmenden gingen dabei der Frage nach, wie sich die Friedensforschung angesichts zunehmender Polarisierung der öffentlichen wie auch akademischen Debatte behaupten und einen überzeugenden Beitrag zum friedlichen Umgang mit Konflikten, insbesondere dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, liefern könnte.
Konzepte, Praktiken und Strategien für den Umgang mit aktuellen Herausforderungen
Auf Basis von Inputs von Hanne-Margret Birckenbach, Juliana Krohn und David Scheuing wurden wechselweise in den Themenfeldern „Konzepte“, „Praktiken“ und „Strategien“ Ideen und Vorschläge diskutiert. Bei den Konzepten ging es u.a. um den Friedensbegriff, dessen Diskussion und klare Definition die meisten als wichtig empfanden, wobei jedoch vermieden werden sollte, sich ausschließlich in konzeptuellen Fragen zu verlieren. Als zentral wurde erachtet, Frieden als Charakterisierung von Beziehungen zu reetablieren. Gleichwohl sei es essentiell, die Vielfalt von Friedensbegriffen und verschiedenen Ansätzen und Perspektiven auch nach außen zu tragen, dabei aber konsequent das Merkmal der Gewaltverneinung zu betonen. Eine solche Differenzierung könne auch dazu beitragen, der rechtspopulistischen Vereinnahmung des Friedensbegriffs entgegenzuwirken. Die Friedensforschung könne somit in Zeiten von Eskalation und Krieg zu einer Diskursunterbrechung beitragen und aktuelle Geschehnisse kontextualisieren. Es gelte dabei, globale Krisen zusammenzudenken, die Klima- und Biodiversitätskrise als Friedensproblem zu verstehen und dafür die Reetablierung von Frieden als Beziehung zur Natur vorzunehmen.
Die Auseinandersetzung mit Konzepten der Friedensforschung wurde somit auch als mögliche Strategie befunden, um Friedenswissen durch eine transferorientierte Aufbereitung, Übersetzung und Erklärung der komplexen, teils abstrakten und vielfältigen Ansätze und innerdisziplinären Debatten und ihrer Relevanz zugänglich zu machen. Neben medialer Aufbereitung sei es auch wichtig, im konstruktiven Austausch mit der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen zu sein. Außerdem könnten alternative Formate entwickelt werden, die der differenzierten und somit zeitlich umfangreicheren Thematisierung friedenswissenschaftlicher Erkenntnisse dienen, als es etwa Interviews in Nachrichtensendungen zulassen.
Die Diskussion von möglichen Praktiken behandelte die wichtige, aber bei Weitem nicht erschöpfte Rolle von Konfliktbearbeitungs- und -transformationspraktiken in der Gesellschaft. Diese Rolle müsse durch eine aktiv in der Gesellschaft vermittelnde Friedensbildung gestärkt und ausgebaut werden, um die Relevanz von Friedenswissen vor Augen zu führen und verinnerlichen zu helfen und sie gleichzeitig weiterzuentwickeln. Gerade Diskussionen um den Ukraine-Krieg haben gezeigt, dass Praxen des zivilen Ungehorsams und der zivilen bzw. sozialen Verteidigung jüngst von geringem Interesse waren und somit ihre mögliche Anwendung im Kriegsfall wenig durchdacht war, was in der Debatte zu Vorwürfen von Zynismus und Naivität geführt hat.
Die Etablierung von Friedenswissen in und im Austausch mit der Gesellschaft
Eine fruchtbare Perspektive wurde durch den Vergleich mit den Naturwissenschaften und ihrer maßgeblichen Rolle in der Klimabewegung angeboten. Somit stellte sich die Frage, ob und wie Friedenswissen in einfache Regeln und Grundsätze, etwa einen „Dreisatz“ oder ein „1,5 Grad-Ziel“ der Friedenswissenschaft, heruntergebrochen werden könne. Allerdings wurde auch angemerkt, dass die heute zentrale Rolle der Naturwissenschaften auf einen langen Prozess bis in die 1980er Jahre zurückgeht, dessen Entsprechung in der Friedensforschung es folgerichtig zur Erreichung von langfristigen Zielen anzustoßen gilt. Es wurde aber auch angemahnt, dass Prozesse von Formulierung und Kanonisierung von Friedenswissen auch immer Ausschlüsse und Vereinfachungen bedeuten, nicht zuletzt im Lichte der kolonialen Logik positivistischer Wissenschaft. Diese sollten nicht aus den Augen verloren werden, sondern in der Etablierung von Friedenswissen in und im Austausch mit der Gesellschaft mitgedacht und sichtbar gemacht werden.
Diese Ideen können bei effektiver Umsetzung helfen, mehr Raum für konstruktive Debatten und Austausch jenseits von Forschungsprojekten, Publikations- und Diskussionsformaten zu schaffen, die (auch in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung e.V.) von den im akademischen Betrieb inzwischen vorherrschenden neoliberalen Logiken und dem Bemühen um Relevanz für den Politikbetrieb geprägt sind. Dies kann einen wichtigen Beitrag zur weiteren Etablierung friedenswissenschaftlicher Perspektiven leisten.
ÜBER DIE AUTOR*INNEN
Philipp Lottholz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und am Sonderforschungsbereich/Transregio „Dynamiken der Sicherheit“. Seine Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung und umfassen Friedens- und Staatsaufbau, Wissensproduktion, post- und dekoloniales Ansätze sowie kooperative, dialogische und aktivistische Forschungsansätze.
Juliana Krohn ist Friedens- und Konfliktforscherin und Universitätsassistentin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, wo sie das interdisziplinäre Doktoratskolleg „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ koordiniert. In ihrer Forschung befasst sie sich unter Bezugnahme auf dekoloniale und herrschaftskritische Perspektiven mit dem Zusammenhang von gewaltvollen gesellschaftlichen Naturverhältnissen und Friedensverständnissen. Zusammen mit María Cárdenas ist sie Sprecherin des Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK e.V.).
_______________________
Anmerkung der Autor*innen: Vielen Dank an die Teilnehmenden des Workshops “Friedensforschung in Zeiten von Eskalation und Krieg, quo vadis?” für den produktiven Austausch und die vielfältigen Ideen und Vorschläge sowie für die Lektüre von und Anmerkungen zu diesem Text.