Multiple Ordnungen in Europa? Die ‚Zeitenwende‘ und die neuen Rahmenbedingungen außenpolitischen Handelns

Die Debatte um eine ‚Zeitenwende‘ in Europa unterschätzt bislang das Problem, wie außenpolitisches Handeln unter der Bedingung auseinanderlaufender Situations- und Wirklichkeitswahrnehmungen Russlands und des Westens künftig wirksam gelingen kann. Denn der Angriffskrieg erodiert nicht nur eine Sicherheitsordnung, die auch die Beziehung zu und mit Russland als austarierte Interdependenzbeziehung innerhalb einer Ordnung strukturieren sollte. Russlands „Spezialoperation“ im sogenannten „nahen Ausland“ ist vielmehr der gewaltvolle Ausdruck multipler Ordnungen in Europa, in denen sich das Handeln auf je eigene Rationalitäten und Vorstellungen legitimer Gewalt gründet. Was aber sind die Rahmenbedingungen einer Außenpolitik, die nicht länger die Beziehungen innerhalb einer, sondern zwischen multiplen Ordnungen in Europa strukturiert?

 

Liberale Erwartungen in der „neuen Realität“ Europas

Europas Regierungen zeigten sich im Februar 2022, unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, schockiert. Obgleich einer Aufklärung der Lage, fiel das Antizipieren der genuin russischen Situationswahrnehmung und der Ratio, warum der Kreml einen Angriffskrieg als sinnvolle Handlungsoptionen perzipieren möge, schwer. Seitdem wird in Wissenschaft und Politik darüber debattiert, welche Implikationen der Angriffskrieg für die europäische Sicherheitsarchitektur haben wird und inwieweit Europa die Gefahr einer Invasion selbst vor den Erfahrungen der Annexion der Krim unterschätzte. Mit der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ folgte zwar schnell die Feststellung, dass mit dem Angriffskrieg „eine neue Realität geschaffen“ worden und „die Welt danach nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“ sei. Auch die EU-Institutionen betonten mantraartig den Beginn einer „neuen Ära“ als „definig moment“ und bemühten damit die Beschreibung eines Paradigmenwechsels und den Niedergang westlicher Ordnungsprinzipien, was auch in der Außenpolitikforschung als „Krise liberaler Ordnung“ verhandelt wird.

Tatsächlich aber scheint ein Umgang mit dieser neuen Realität nicht auch die Suche nach einem künftigen Umgang mit Russland zu umfassen – oder schwerer zu fallen als erwartet. Zumindest hat sich bislang noch keine strategische Beschreibung hervortun können, die sich von alten Mustern und unerfüllten Voraussetzungen wesentlich unterscheidet. Denn weiter fällt es besonders Westeuropa schwer, die eigenständige Rationalität hinter dem Angriffskrieg und den russischen Ansprüchen im sogenannten „nahen Ausland“ zugänglich zu machen, die einem liberalen Ordnungsdenken fremd sind. Es scheint, als verharre Europa in einem Handlungsmodus, der zwar den Voraussetzungen liberaler Staatenbeziehungen entspricht, für einen Umgang mit Russland aber unzulänglich bleibt. Ein Grund dafür kann darin gesehen werden, dass sich die „neue Realität“ Europas gar nicht in der endgültigen Abkehr Russlands von der liberalen Ordnung erschöpft – das war bereits vor der Zeitenwende bekannt. Zur neuen Realität ist vielmehr der Umstand einer proaktiven Inanspruchnahme eigener Ordnungsvorstellungen geworden, die von einer nicht marginalen Staatengruppe um China gestützt wird. Damit werden sich künftige Beziehungen zu Russland erstmals seit Ende des Kalten Krieges zwischen multiplen Ordnungen abspielen, in denen sich das Handeln auf je eigene Rationalitäten gründet. Das verändert aber die Rahmenbedingugnen außenpolitischen Handelns.

Dieser Beitrag unternimmt den Versuch einer Problemsensibilisierung und fragt, ob europäisches Handeln nach der Zeitenwende am Paradigma einer homogenen Weltordnung festhält, in der liberale Ordnungsschemata als unhinterfragte Gewissheiten eine Weltwahrnehmung konstituieren, die auch der russischen Seite unterstellt wird und strategische Anpassungen erschwert.

 

Unhinterfragte Gewissheiten als Hindernis der Zeitenwende

Ein Hindernis für das Justieren verlässlicher Erwartungen gegenüber Russland scheint insbesondere darin zu liegen, dass die ‚Zeitenwende‘ bislang mit weitestgehend unveränderten Annahmen und Vorverständnissen operiert. Denn weiterhin wird der Umgang mit Russland als ein solcher innerhalb des gleichen Ordnungsmodells konzipiert und damit unhinterfragt vorausgesetzt, dass die Situation in der Ukraine für alle Seiten intelligibel ist, d.h. vergleichbar wahrgenommen und zumindest potenziell hinsichtlich sinnvoll erscheinender Reaktionsmöglichkeiten gegliedert wird. Kurzum: Es dominiert die liberale Erwartungshaltung, „dass internationale Akteure in ihrer Gesamtheit auf einem einzigen Schauplatz agieren, namentlich einem, der von liberalen Normen, Maßstäben und Prinzipien reguliert wird“ und so Teil einer einheitlichen Ordnung sind, innerhalb der auf Grundlage einer kollektiv geteilten Rationalität gehandelt wird. Es wird blind davon ausgegangen, dass auch Russland die zwingende Geltung dieser Prinzipien erkennen und nur noch zu deren Einhaltung gedrängt werden müsse. Außenpolitik erscheint so auch nach der Zeitenwende als einfacher Austauschprozess von objektiv überbring- und empfangbaren Interessen und Werten beteiligter Akteure, denen eine spezifische (liberale) Ordnungsidee gemein ist. Damit baut europäisches Handeln auf Voraussetzungen, die im Umgang mit Russland aber unerfüllt oder erst herzustellen sind.

Paradigmatisch artikuliert sich das bauen auf unerfüllten Voraussetzungen im Bemühen der (nur) für liberale Staaten prägenden Dichotomie zwischen Recht und Macht, wie sie auch Scholz und Von der Leyen reflexartig aufgriffen: „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf (…)“. Die Systemfrage, so verschärft Von der Leyen die Problemfassung, bestehe darin, dass Russland sich jeder Ordnung entziehe und den Pfad willkürlicher Gewalt wähle: „This is a clash between the rule of law and the rule of the gun, between a rule-based order and naked aggression”. Während solche Determinierungen zweifelsfrei dazu geeignet sind, die Entschlossenheit europäischer Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck zu bringen, bergen sie doch weder strategischen Gehalt noch eine der Zeitenwende angemessenen Problemfassung, auf dessen Grundlage eine Anpassung auf „neue“ außenpolitische Rahmenbedingungen stattfinden könnte. Denn es dient bereits eine Ordnungsvorstellung als Beobachtungsschema für die russische Aggression, welche selbst inhärenter Teil liberaler Ordnung ist, sodass es jenseits einer selbstreferentiellen Vergewisserung schwerfällt, der Weltsicht Russlands als eigenständige Ordnung zu begegnen. Russisches Handeln wird in vorwiegend westlich geprägten Begriffen erklärt und beschrieben und somit dessen Logik verfehlt. Folglich bleibt für die Fassung der Bedrohungsart wenig mehr als die Feststellung der Willkür, die als Abweichung von liberalen Prinzipien erscheint, aber nicht in Frage stellt, ob das liberale Ordnungsmodell auch anderen Akteuren als Bezugsystem für die Unterscheidung von (il-)legitimer Gewalt dient.

Während eine Interdependenzpolitik so früh als verfehlt verabschiedet wurde, trat mit dem Verweis auf die zu stärkende regelbasierte internationale Ordnung ein strukturgleiches Leitprinzip, das bei genauer Betrachtung auf denselben Voraussetzungen baut. An die Stelle der Erwartung ‚Frieden durch Handel‘ trat die des ‚Friedens durch Recht‘ ohne die strategischen Apparate europäischer Außen- und Sicherheitspolitk dafür zu sensibilisieren, ob die Begriffe, in denen der Angriffskrieg wahrgenommen und beschrieben wird, auch außerhalb der liberalen Welt auf Anerkennung stoßen und die handlungsanleitenden Rationalitäten des Angriffskrieges selbst erfassen. Die Enthaltungen Chinas, Indiens oder Südafrikas in der UN-Generalversammlung lassen daran zweifeln. Nun sind weder interdependente Wirtschaftsverflechtungen noch die Stärkung regelbasierter Ordnung als naiv abzutun, wie in Teilen der Debatte insinuiert. Eine marginalisierte Herausforderung liegt aber darin, wie außenpolitisches Handeln die Vorbedingungen für Interdependenz und regelbasiertem Handeln überhaupt herstellen kann. Damit wirken unhinterfragte Gewissheiten besonders im „Herzen“ der europäischen Gemeinschaft als Hindernis für die Zeitenwende einer strategischen Kultur, die von Perzeptions- und Adaptionsfähigkeiten der baltischen Partner lernen könnte.

 

Zeitenwende als strategische Fähigkeit

Eine gelungene Zeitenwende setzt voraus, die Prinzipien sowie die Denk- und Handlungsweisen russischer Ordnungvorstellungen in ihrer eigenen Rationalität zu erfassen und die Fähigkeit zu erlangen, die Wahrnehmungen und Folgerungen zu beherrschen, die sich aus dieser Ordnung ergeben. Wie dies gelingen kann, zeigen Reaktionsweisen und Antizipationsleistungen der polnischen und baltischen Partner, die Russlands Weltsicht längst als eine eigenständige Ordnung begegnen.

Denn das Problem Europas mit Russland besteht weniger darin, dass der Kreml sich jeder Form der rechtlichen Rechtfertigung entzieht. Die völkerrechtlich anmutende Re-interpretation des Kremls, die „Spezialoperation“ in der Ukraine auf „historische Rechte“ und der Geltendmachung eigener Souveränitäts- und Schutzansprüche im russischen (Groß-)Raum stützen zu können, führt vielmehr eine eigene Ordnungssystematik ein, die das Völkerrecht zur Imperialordnung umfunktioniert. Eigenständig ist diese Ordnungsidee insofern, als dass mit ihr nicht nur andere Interessen und Zielvorstellungen einhergehen, sondern Grundkonzepte und Ordnungsprinzipien in gänzlich neue Zusammenhänge gestellt werden. Die auch von China gestützte Vorstellung etwa, Souveränität und Subjektfähigkeit ehemaliger Sowjetstaaten im „nahen Ausland“ unter den Vorbehalt ihres Bekenntnisses zur „russischen Welt“ (russki mir) zu stellen, rehabilitiert ein aus dem Völkerrecht des 20. Jahrhundert bekanntes Denken in territorialen Einflusssphären. Im Zentrum stehen nicht mehr durch das Völkerrecht garantierte souveräne Staaten, sondern historisch begründete Räume, für die das Völkerrecht als Abwehrordnung gegen jede Form ‚raumfremder‘ Einmischung dient. Aus diesem Denken heraus, so heißt es aus dem Kreml, sei es Russland selbst, die mit der „Spezialoperation“ ureigene Territorial- und Vorrechtsansprüche gegenüber „imperialen“ Einflüssen westlicher Werte in der Ukraine durchsetzte. Sich darauf strategisch einzustellen erfordert, der Weltsicht Russlands (und Chinas) konzeptuell und operativ als eine eigenständige Ordnung zu begegenen, in der liberale Rationalitätserwartungen keine Geltung finden.

Während europäische Außenpolitik also darauf eingestellt ist, Pluralität innerhalb liberaler Ordnungskontexte multilateral zu managen, fehlen Routinen, um Beziehungen zwischen multiplen Ordnungen zu strukturieren, in denen bereits das Verständigen auf Grundbegriffe wie der Bedeutung von Souveränität und der Rolle des Völkerrechts unerreichbar scheinen.

 

Empfehlungen

Eine Zeitenwende, die sich auf Rahmenbedingungen außenpolitischen Handelns unter dem Paradigma multipler Ordnungen in Europa einstellt, muss also drei Herausforderungen meistern:

  1. Russlands Weltsicht als eigenständige Ordnung zu begegnen impliziert, Verlautbarungen des Kremls nicht als ‚cheap talk‘ abzutun, sondern als handlungsanleitendes und performatives Wissen behandelte Weltsicht ernstzunehmen – ohne diese selbst anzuerkennen.
  2. Strategische Vorausschau anpassen setzt zu antizipieren voraus, in welchen künftigen Kontexten von den Ordnungsrationalitäten einer russischen Weltsicht zu erwarten ist, militärische Agressionen als ‚sinnvolle‘ Handlungsalternative in Betracht zu ziehen – und wo gerade nicht.
  3. 3. Resilienz aufzubauen erfordert schließlich das Etablieren einer strategischen Kultur, die eigene Gewissheiten selbstreflexiv evaluiert und Erwartungen für die Bedingungen multipler Ordnungen in Europa sensibilisiert, in denen uns selbstverständlich erscheinende liberale Prinzipien keine Geltung finden.

 

ÜBER DEN AUTOR

Florian Hubert (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und promoviert zur Theoretisierung gegenwärtiger Ordnungsdynamiken.