Bosnien & Herzegowina zwischen Paralyse und Fortschritt

BuH ist nicht nur politisch kontrovers, sondern auch das Stadtbild Sarajevos zeigt eine Mischung Fortschritt und Kriegsnarben. Bild: Eric Fidler, flickr, CC BY-NC 2.0.

Bosnien und Herzegowina ist ein Land, das sich nach den Zerfallskriegen Jugoslawiens noch immer in einem verworrenen und langwierigen Friedensprozess befindet. Verglichen mit der Phase nach dem Krieg der 90er Jahre, ist die gegenwärtige Situation vielfach komplexer geworden.

Der durch den Krieg bedingte, tiefgreifende gesellschaftliche und politische Verfall im Land verhärtete die langwierige Friedenskonsolidierung, die in einer – bis heute verschleppten – komplizierten Nachkriegsentwicklung resultierte. Heute ist das Land nach wie vor ein unfertiger Staat, in dem Identitätsbildungsprozessen noch immer von wesentlichen diversen Problemkomplexen bestimmt sind.

Politische Dynamiken

Insgesamt erlebte Bosnien und Herzegowina (BuH) in den letzten Jahren immer wieder Krisen, die einen nachhaltigen Fortschritt des Landes teilweise schwer behinderten. In den letzten Jahren sind folgende politischen Dynamiken feststellbar: Untergraben der Rechtsstaatlichkeit und der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes durch diverse (politische) Interessensgruppen, Föderalisierungstendenzen, Fragmentierung der politischen Landschaft, Eskalationsspitzen ethnopolitischer Zerwürfnisse, Zunahme ethno-nationalistischer Rhetorik, Verfestigung und Erstarken von Nationalismus und religiöser und politischer Extremismus.

Am heikelsten unter den genannten Dynamiken sind dabei die wiederkehrenden Referendumsinitiativen der Republika Srpska (RS), die enorme Sprengkraft für die Einheit und territoriale Integrität des Landes bergen und massive Auswirkungen auf den EU-Integrationsprozess BuHs haben. Zudem wurden die inter-ethnischen Beziehungen durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der Volkszählung von 2013 strapaziert. Die dabei festgestellte großteilige Homogenität der beiden Entitäten deutet darauf hin, dass ethno-nationale Parteien ein Interesse daran haben, ihre WählerInnen eher homogen zu halten. Die Inklusion von Minderheiten in den jeweiligen Entitäten könnte demnach zum Verlust der stabilen Machtbasis der Parteien führen, womit sie die politischen Konkurrenzkämpfe weiter vertiefen.

EU-Integrationsprozess

Diese Dynamiken sind um einen festgefahrenen EU-Integrationsprozess angereichert. Ethno-nationale Interessen verdrängen darin alles Andere und verhindern Fortschritt. In dieser Gemengelage versuchte sich die EU in den letzten Jahren vermehrt als Gegenpol zu etablieren. Brüssels Aktivismus wird aber zunehmend aufgerieben und verliert so zunehmend seine einstige Integrationskraft, die in der Vergangenheit durchaus auch nicht überall gleich stark wirkte. Der von Christopher Bennett beschriebene einstige „pull“ von Brüssel gleicht mittlerweile in Zügen mehr dem „push“ des Dayton-Friedensabkommens.

Die Strategie der EU, ihre Erweiterungspolitik technisch zu halten, sollte einer kontraproduktiven Politisierung durch die beteiligten Akteure vorbeugen. Dieser Prozess wurde aber im Spannungsfeld zwischen EU-Erweiterungspolitik und Nach-Kriegs-Transformation von lokalen Akteuren usurpiert. Politik in BuH ist deshalb oft eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Dadurch wurde deutlich, dass der Erweiterungsprozess kein Instrument ist, um ethno-politische Konflikte zu lösen und interne Faktoren dadurch oft nicht bewältigbar sind. Fortschritt ist demnach in jeglicher Hinsicht ambivalent zu bewerten. Schritte in Richtung Demokratie entpuppen sich vielfach als gefangen zwischen „state-making and nation-breaking“, wie Azra Hromadžić beschreibt. Vor diesem Hintergrund bleibt das Resümee im EU-Erweiterungsprozess ambivalent. Ohne hier die Sinnhaftigkeit des ganzen Verfahrens kommentieren zu können, ist festzustellen, dass BuH darin leider lediglich ernüchternde Fortschritte vorweisen kann und nach wie vor auf der Stufe struktureller Reformen – auf Stufe Null auf dem Weg in Richtung EU – feststeckt.

Ausblick

Ein großes Fragezeichen für BuH ergibt sich durch die gegenwärtige Unberechenbarkeit der US-Außenpolitik. Auch die fortdauernde Krise der EU wird sich erheblich auf den Westbalkan auswirken. Damit brechen laut Predrag Jureković für BuH „außenpolitische Eckpfeiler“ weg, die nationalistische Kräfte ermutigen werden „ihre destruktive Agenda [weiter] umzusetzen“.

Hinsichtlich der überregionalen Herausforderungen muss sich BuH darauf einstellen, dass dem Land in Zukunft vermehrt Aufgaben zufallen können. Themen wie Terrorismus, Migration oder etwa organisierte Kriminalität stellen durch ihre Transnationalität hochgradig komplexe Herausforderungen dar, die nur durch enge interne Kooperation und Aufgabenteilung aller Staaten des Westbalkans untereinander sowie mit der EU bewältigt werden können. Erschwerend wird dabei die desaströse finanzielle Situation des Landes sein, die nur wenig volkswirtschaftlichen Spielraum für die Politik zulässt.

Die Entwicklungen der letzten Jahre stellen fortgesetzt das Dayton-Friedensabkommen und damit die verfassungsrechtliche Grundlage des Landes infrage. „Klassische“ Debatten in BuH, wie über das „April Package“ oder „Sejdic-Finci“, dürften dahingehend eine Renaissance erfahren. Über kurz oder lang werden sich die wesentlichen lokalen und internationalen Akteure also grundlegende Fragen stellen müssen, wohin die Reise in der nächsten Dekade gehen soll. Klar dürfte in BuH mittelfristig nur eines bleiben: Die Untrennbarkeit von Hoffnung und Abrutschangst eines prekären Friedensprozesses.

Empfehlungen

Die lokalen Partner der EU in BuH haben vielfach ähnliche politische Hintergründe, wie Akteure, die in den BuH-Krieg verwickelt waren oder maßgeblich vom Dayton-Abkommen profitiert haben. Diese Akteure priorisieren weiterhin eine machtpolitische Agenda, weshalb ihr Interesse an Kompromiss gering ist.

  • Die EU muss deshalb stärker in einer vermittelnden Rolle auftreten, um diesen verhärteten Machtblock aufzuweichen und neue vertrauensvolle Akteure, z.B. aus der Zivilgesellschaft oder aus multiethnischen Gruppen, miteinbeziehen.

Die Europäische Kommission blieb nach dem Vertrag von Lissabon der Motor eines technisch gehaltenen EU-Integrationsprozesses. Dessen ungeachtet blieben nationale Interessen der Mitgliedstaaten dermaßen bestimmend, dass sie eine strategische Verschiebung der EU-Erweiterung von technischer „Policy“ zu „Politik“ erwirkten. In den damit einhergehenden Verhandlungen wurde es BuH damit ermöglicht, über politisierte Standards eines Beitritts statt über technische Details zu verhandeln.

  • Wenn der Beitrittsprozess erfolgreich sein soll, muss die EU ihn entpolitisieren und ihm wieder ein neutrales und technisches Fundament geben, auf Basis dessen technisch-administrative Reformen umzusetzen. Dazu muss die EU-Perspektive mit mehr Leben befüllt werden.

EU-Integration kann nur gelingen, wenn die staatlichen Institutionen es zumindest schaffen, die an sie übertragene Eigenverantwortung zu nutzen und sich im ethno-national aufgeladenen Klima behaupten. Ohne Zivilgesellschaft als Gegenpol zu nationalistischer Politik (z.B. durch Demokratisierungsprojekte) droht BuHs fragile Demokratie noch dysfunktionaler zu werden.

  • Eine kritischere und intensivere Kooperation der EU mit pro-europäischen Kräften im Land sowie eine Trendumkehr in der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Kräfte scheinen deshalb unumgänglich.

Durch die strategische Partnerschaft zwischen der EU und den USA in BuH wurde die Erwartung geweckt, dass der EU-Integrationsprozess auch ungeklärte Fragen im Friedensprozess löst. Im Vordergrund steht in dieser Hinsicht die von den USA priorisierte Verfassungsreform. Während sich die Kluft zwischen Erwartung und Realität dahingehend stetig vergrößert, versuchen die USA nunmehr den status quo beizubehalten, indem sie verstärkt das Office of the High Representative (OHR), als Hüter der “alten” Dayton-Ordnung, stützen. Die EU versucht dagegen durch sektorielle Teilreformen Fortschritt zu erwirken und Verfassungsreform vorerst hintenanzustellen.

  • Um aber eine europäische Zukunft BuHs zu garantieren, muss der Widerstreit in den Zugängen von EU und dem OHR geklärt werden. Nur dadurch könnten die politischen Karten im Land neu gemischt werden und der EU der notwendige Raum zur Reform gegeben werden.
Der Autor

Lukas Wank ist Leiter von „Shabka“ und war zuvor in verschiedenen Funktionen für das österreichische Bundesheer und Verteidigungsministerium im In- und Ausland tätig, darunter in der Konfliktanalyse, in der politischen Beratung und der Policy-Erstellung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen regional in der MENA-Region und am Westbalkan und inhaltlich in der Friedens- und Konfliktforschung und Sicherheitspolitik.