Venezuela – ein Kollaps in Zeitlupe

Ein Mural von Hugo Chavez in Merida/Venezuela. Bild: flickr user David Hernández, CC BY-SA 2.0.

Isolation statt Hilfe. Die Welt schaut zu, wie die venezolanische Bevölkerung durch wirtschaftlichen Misserfolg, Hyperinflation, Gewalt und leere Lebensmittelregale ihrer Perspektiven beraubt wird.

Hugo Chavez, das Sinnbild der venezolanischen Revolution, wollte eine Umverteilung des Wohlstandes. Er erreichte eine freie medizinische Versorgung für alle, Bildungsmöglichkeiten wurden für jede soziale Schicht zugänglich gemacht und Lebensmittelpreise staatlich reguliert, um sie niedrig und für die ganze Bevölkerung bezahlbar zu halten. Sozialer Wohnbau wurde vorangetrieben und weite Teile der Industrie verstaatlicht. All diese Maßnahmen halfen besonders dem armen Teil der Bevölkerung. Die Finanzierung dieser Unterstützung wurde allein durch den verstaatlichten Ölkonzern, Petróleos de Venezuela S.A, ermöglicht. Investitionen in andere Industrieproduktionen oder der Wirtschaft blieben aus, Misswirtschaft des Ölkonzerns führte zur Senkung der Ölförderungen. Zur Verschärfung der Krise sorgte ebenfalls der fallende Ölpreis. Zudem ist Venezuela durchsetzt von korrupten Strukturen. Im corruption perception index 2016 landete Venezuela nur auf Platz 166 von 176.

Hugo Chavez starb im Jahr 2013, woraufhin sein Protegé Nicolás Maduro für eine sechsjährige Amtsperiode zum Präsidenten gewählt wurde. Unter seiner Amtszeit wurde das gesamte Ausmaß der Verstaatlichung, Korruption und Misswirtschaft deutlich. Konsumgüter konnten nicht mehr importiert werden und die Regale blieben leer. Der Bolíva, die lokale Währung, erfährt gegenwärtig eine Inflation von bis zu 700%. Die Opposition wurde stärker und Demonstrationen, Straßenschlachten und auch Blockaden weiteten sich seit 2014 zunehmend aus. Agrarbetriebe mussten schließen, weil sie von den staatlich vorgeschriebenen Verkaufspreisen nicht überleben konnten. Das führte zu einer weiteren Zuspitzung der Verknappung von Lebensmitteln. Nicolás Maduro hat inzwischen ein Urban Gardening Programm ins Leben gerufen, welches die Bevölkerung ermächtigen soll, sich selbst zu ernähren. Diese Maßnahme zeigt, wie ernst die Lage Venezuelas ist.

Die Parlamentswahl im Dezember 2015 brachte einen klaren Meinungswandel der Bevölkerung zum Ausdruck. Die regierende sozialistische Partei (PSUV) bekam 55 Sitze und verlor damit 41 Sitze sowie die Mehrheit im Parlament. Die Opposition (MUD) erzielte mit 112 gewonnenen Sitzen einen klaren Sieg.

Im März 2017 führte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof zum Ausbruch erneuter gewaltsamer Massenproteste. Die legislative Gewalt sollte dem Obersten Gerichtshof, der dem Präsidenten Nicolás Maduro zugetan ist, übertragen werden und die Immunität von Parlamentarier*innen begrenzen. Parlamentspräsident Julio Borges warf Nicolás Maduro daraufhin vor, eine Diktatur erschaffen zu wollen. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird unterdrückt. Für ausländische Berichterstatter*innen ist es fast unmöglich, ein Visum zu bekommen. Regierungskritiker*innen, darunter auch zwei führende Oppositionelle, Richter*innen oder Journalist*innen wurden verhaftet und die Straßenproteste gewaltsam niedergeschlagen. Human Rights Watch berichtet darüber hinaus über Folterungen der Regierungsgegner*innen in den überfüllten Gefängnissen. Das neu eingesetzte Verfassungsgebende Konvent wird als weiterer Machtmissbrauch interpretiert. Dieser Konvent ist ausschließlich mit regierungstreuen Personen besetzt und wird von der Opposition als strategisches Manöver verstanden, um Maduros Machtverlust im Parlament zu kompensieren und möglicherweise die Präsidentschaftswahlen Ende 2018 zu verzögern.

Überraschend kündigte Nicolás Maduro Mitte September 2017 an, für einen erneuten Dialogversuch mit der Opposition bereit zu sein. Die Gespräche sollten am 27. September auf neutralem Boden in der Dominikanischen Republik stattfinden, mit Präsident Danilo Medina als Vermittler. Am 25. September wurden die Vermittlungsgespräche durch die Opposition kurzfristig abgesagt. Sie hatte einige Vorbedingungen an die Gespräche geknüpft, die nicht erfüllt wurden, wie beispielsweise die Freilassung von politischen Gefangenen oder die Auflösung des Verfassungsgebenden Konvents.

Venezuela hat einen schwierigen internationalen Stand, die USA verhängen weiterhin Sanktionen und auch die Europäische Union zieht Sanktionen in Erwägung. Kolumbien, Mexiko sowie Peru verurteilen die Politik Maduros und wollen das Verfassungsgebende Konvent nicht anerkennen. Evo Morales, der bolivianische Präsident, steht Maduro noch treu zur Seite, ebenso wie Russland, China, Nicaragua und besonders Kuba. Insbesondere der Rückgang der Kaufkraft der traditionellen Handelspartner wie China ist maßgeblicher Auslöser der schwachen Konjunktur.

Venezuela ist nur eine Konfliktregion in Südamerika. Auch Kolumbien und Brasilien sind von gesellschaftlichen und politischen Unruhen betroffen. Die Auswirkungen eines Bürgerkrieges auf die Nachbarländer wären katastrophal. Die starke Verarmung der Bevölkerung Venezuelas hat die Opposition erstarken lassen, längst finden sich dort nicht mehr nur ein verarmter Mittelstand, sondern alle gesellschaftlichen Schichten. Dennoch ist MUD ein Zusammenschluss aus einer Vielzahl von Kleinstparteien, von neoliberalen bis zu Ultra Rechten, die Ausrichtung des politischen Handelns nach den Wahlen bleibt somit ungewiss.

Empfehlungen

  • Die Eskalation scheint ohne Dialog nicht mehr aufzuhalten zu sein. Die Opposition und Nicolás Maduro müssen Kompromisse finden, um eine Katastrophe zu verhindern. Im Alleingang wird das keiner der Konfliktparteien gelingen. Auch die externen Vermittlungsversuche müssen wahrgenommen werden, um einen Weg aus der Krise zu finden. Die internationale Isolation sollte unbedingt vermieden werden.
  • Der Abhängigkeit vom Öl sollte schnellst möglich entgegengewirkt werden. Diese Maßnahmen sind nicht ad hoc umsetzbar. Langfristig müssten ausländische Direktinvestitionen zugelassen werden, sie wurden aber bisher von der Nationalversammlung abgelehnt. Um einen Ausverkauf der regionalen Ressourcen zu verhindern, sollte dies am besten schrittweise und kontrolliert durchgeführt werden.
  • Auch die Menschenrechtssituation in Venezuela muss sich drastisch verbessern, internationale Unterstützung könnte an die Einhaltung der UN Charta gekoppelt werden. Menschenrechtsverletzungen wie die Foltervorwürfe müssen vor unabhängige Gerichte gebracht werden. Detaillierte Ausführungen dazu sind im bereits erwähnten Human Rights Watch Bericht sowie bei Amnesty International zu finden.
  • Die Abhaltung der Wahlen 2018 sollte sichergestellt werden, diese sind essenziel für den Fortbestand demokratischer Strukturen. Nur wenn die Opposition eine reale Chance erhält, Zugang zu politischen Institutionen und Einfluss zu gewinnen, wird die Gewalt auf den Straßen abklingen können und durch Konstruktivität an den Verhandlungstischen abgelöst werden.

Fact Sheet Venezuela

In den Fact Sheets präsentiert der CPD Policy Blog relevante Hintergrundinformationen zu verschiedensten politischen Themen. Die kompakte und übersichtliche Aufbereitung der Themen ermöglicht es Interessierten aus Wissenschaft und Praxis sowie der Öffentlichkeit sich einen raschen Überblick zu verschaffen.

Das vorliegende Fact Sheet Venezuela (Stand: 21. August 2017) bieten neben Fakten und zentralen Aspekten der derzeitgen Situation des Landes auch einen Ausblick über zukünftige Entwicklungen.

ÜBER DIE AUTORIN

Rebecca Trixa ist Masterstudentin der “Global Studies” an der Karl-Franzens Universität in Graz. Schwerpunkte:  Europäische Union,  Völkerrecht sowie Friedens- und Konfliktforschung. Erfahrungen als Menschenrechtsbeobachterin auf den Philippinen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft.