
Das Virus führt uns den Zustand der Welt vor Augen. Es verbreitet sich global, und seine Bekämpfung würde globale Anstrengungen auf vielen Ebenen erfordern. Doch die Staaten reagieren weitgehend national. Schlimmer noch: Immer wieder siegt die (nationalistische) Ideologie über die Vernunft, manchmal selbst über die beschränkte ökonomische oder gesundheitspolitische Vernunft.
Der nationale Tunnelblick
Es beginnt schon bei der Wahrnehmung: Zunächst haben wir das Virus als rein chinesische Angelegenheit gesehen. Präsident Trump spricht ganz gezielt vom „Chinese Virus“, nachdem er es ursprünglich als „foreign virus“ tituliert hatte. Und erinnern wir uns an den moralisierenden und rassistischen Unterton der ersten „Erklärungen“ – die fragwürdigen Essgewohnheiten der Chinesen und die schlechten sanitären Bedingungen auf ihren Wildmärkten.
Globale Gefährdungen bewirken eben nicht automatisch globale Solidarität. In jeder Krise reagieren wir im Prinzip, d.h. wenn wir nicht vorher andere Mechanismen aufgebaut haben, nicht nach dem Motto „zusammenhalten“, sondern nach der Maxime „Rette sich, wer kann, jede*r einzeln“. So ist es auch kein Wunder, dass die meisten Staaten Grenzschließungen als probateste Maßnahme ansahen, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen. Man wird sagen, dass das eine vernünftige Entscheidung ist, denn die Gesundheitssysteme seien nun einmal national organisiert und es stehe auch gar kein anderes Instrumentarium zur Verfügung. Das ist richtig, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Wäre es, statt pauschaler Grenzsperren, nicht sinnvoller, betroffene „Regionen“ abzusperren, und zwar ausschließlich nach Maßgabe der gesundheitlichen Gefährdung, also durchaus auch grenzüberschreitend? Daran, dass das derzeit nicht möglich ist, zeigt sich schließlich, wie unvollkommen unser internationales System ist. Wir haben globale Probleme erzeugt, aber keine Mechanismen für globale Lösungen zustande gebracht. Es gibt die Weltgesundheitsorganisation WHO, aber sie hat nur sehr wenige Kompetenzen, ist finanziell zu 80 Prozent von privaten Donors, darunter auch Pharmakonzernen, abhängig und ihre bisherige Rolle in der Corona-Krise ist umstritten. Die Mitgliedstaaten der EU haben es sich nicht einmal als Ziel gesetzt, ein gesamteuropäisches Gesundheitssystem aufzubauen. Deshalb reagieren wir wie bei der „Flüchtlingskrise“ – nationale Abschottung. Aber es funktioniert halt bei einem Virus noch viel weniger als bei Menschen auf der Flucht.
Der (nationale) Egoismus geht noch weiter. Beispiel Ischgl: „Man hat das Virus sehenden Auges aus Tirol in die Welt getragen. Es wäre überfällig, sich das einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen“, meinte völlig zu Recht ein Innsbrucker Hotelier.[1] Diese internationale Verantwortung spricht sonst kaum jemand an.
Dabei wirkt sich die Abschottung auf uns selbst negativ aus: siehe das inzwischen aufgehobene deutsche Ausfuhrverbot für medizinisches Equipment, das bei uns zu Engpässen geführt hat. Oder die häusliche Pflege durch ausländische Kräfte, die seit den Grenzschließungen in die Krise geraten ist.
Die mangelnde europäische Solidarität hat sich besonders krass am Beispiel Italien gezeigt. China, Russland und Kuba haben medizinisches Personal und Ausrüstung geschickt. Die Staaten der Europäischen Union, obwohl erst später als Italien betroffen, waren die längste Zeit mit sich selbst beschäftigt. „The EU Is Abandoning Italy in Its Hour of Need. In a shameful abdication of responsibility, fellow countries in the European Union have failed to give medical assistance and supplies to Italy during an outbreak”, heißt es in einem Kommentar der US-Zeitschrift Foreign Policy, ohne allerdings zu erwähnen, dass auch die USA Italiens Hilferuf überhört haben.
Asyl und Migration sind weitgehend aus der Berichterstattung verschwunden. Dabei wäre es eine nicht auszudenkende Katastrophe, wenn das Virus die Flüchtlingslager auf Lesbos erreicht. Doch Staaten wie Deutschland, die sich noch vor kurzem bereit erklärt hatten, unbegleitete Jugendliche und Familien aufzunehmen, haben das Vorhaben zunächst einmal ausgesetzt. Österreich wollte sich an dieser Initiative ohnehin niemals beteiligen. In der Krise trifft es die Schwächsten wieder einmal am stärksten.
„Politischer Kosmopolitismus“
Im Gegensatz dazu ist sehr viel Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und innergesellschaftliche Solidarität in der Bevölkerung zu spüren. Es gibt auch eine beeindruckende weltweite medizinisch-wissenschaftliche Kooperation. Allerdings verhindern die heutigen politischen Strukturen und der „methodische Nationalismus“ derzeit noch, dass diese Solidaritätsbereitschaft auch entsprechend globalisierte Formen annehmen kann.
Es ist bezeichnend, dass eine der wenigen Stimmen, die konsequent globale Vorschläge zur Eindämmung von Corona machen, ausgerechnet der Milliardär Bill Gates ist, der bereits im Februar in einem Artikel im New England Journal of Medicine forderte, dass die reichen Staaten den ärmeren helfen sollten. Hier wiederholt sich in geradezu klassischer Weise die problematische Konstellation, dass die Staaten – die Demokratie und soziale Gerechtigkeit für sich reklamieren – eine eng nationalistische Politik verfolgen, während sie das globale Engagement den großen Konzernen (und deren Interessen) überlassen. Auch die Bill Gates-Stiftung, deren Einsatz für Gesundheitsfragen unbestritten ist, finanziert sich teilweise aus Gewinnen von Unternehmen, die – Junkfood produzieren.
Nun mag die Kritik an den nationalen Sonderwegen wie ein aussichtsloser moralischer Appell wirken. Und tatsächlich spricht etwa der deutsche Philosoph Henning Hahn von einem „politischen Kosmopolitismus“[2] als Grundlage für den bestehenden „moralischen Kosmopolitismus“. Nicht nur er tritt für die „realistische Utopie eines globalen Menschenrechtsregimes“ ein. In unserem konkreten Fall heißt das, dass wir systematisch Strukturen und Mechanismen schaffen oder bestehende wie die WHO stärken müssen, damit diese globale Koordination und gegenseitige Hilfe bei Seuchen und Pandemien leisten. Denn das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, den „Rette sich, wer kann“-Reflex tatsächlich zu überwinden.
Die „irdische Schicksalsgemeinschaft“
Gedankenlos haben wir lange Zeit alle Vorteile der Globalisierung genossen. Spätestens die Klimakrise und politische Bewegungen wie Fridays for Future haben uns nachdrücklich daran erinnert, dass wir dabei auf Kosten der großen Masse der Ärmeren auf der Welt und zu Lasten künftiger Generationen leben. Entsprechende Konsequenzen hat diese vage Einsicht bislang nicht gezeitigt. Wir wollen unsere „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand) nicht so leicht aufgeben. Vielleicht kann uns aber die Corona-Pandemie zu einer tieferen Erkenntnis führen. Schließlich haben wir uns jetzt in wenigen Tagen zu drastischen Maßnahmen durchgerungen, während wir den Kampf gegen den Klimawandel nur allzu zögerlich angegangen sind. Das Virus führt uns vor Augen, dass wir, ob wir das möchten oder nicht, eine „irdische Schicksalsgemeinschaft“ in unserem „Heimatland Erde“ (Edgar Morin)[3] bilden. Um unsere Zukunft zu sichern – so Morins Argumentation – kommen wir um einen radikalen Wandel unserer Lebensgewohnheiten, unserer Wirtschaftsweise wie auch unserer politischen Organisation nicht herum. Ohne auf die Nationalstaaten zu verzichten, sei es doch nötig, darüber hinausgehende transnationale und globale Strukturen zu schaffen. Vor allem aber müssten wir auch eine andere Kultur entwickeln, um diese Strukturen mit Leben zu füllen. Unsere „Schicksalsgemeinschaft“ zu akzeptieren heißt, unser Verhältnis zur Natur wie zu den Mitmenschen auf eine neue Grundlage zu stellen ebenso wie einen Ausweg aus der kapitalistischen Produktionsweise zu finden. Der Slogan von der sozial-ökologischen Transformation deutet die Richtung an.
Wenn die Corona-Krise dazu dient, diese Einsicht zu verbreiten, dann haben wir wohl das Beste daraus gemacht, was man aus so einer Katastrophe machen kann.
DER AUTOR
Univ.-Prof. i. R. Dr. Werner Wintersteiner war Gründer und langjähriger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt; er ist Mitglied des Leitungsteams des Klagenfurter Master Universitätslehrgangs „Global Citizenship Education“.
[1] Steffen Arora, Laurin Lorenz, Fabian Sommavilla in: Der Standard online, 17.3.2020.
[2] Henning Hahn: Politischer Kosmopolitismus. Praktikabilität, Verantwortung, Menschenrechte. Berlin/Boston: De Gruyter 2017.
[3] Edgar Morin/Anne Brigitte Kern (1999): Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik. Wien: Promedia.
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