Sicherheitspolitik wird primär als Aufgabe der Regierung verstanden. Wenn diese in Krisenzeiten folglich die Ausweitung ihrer Kompetenzen beschließt, erscheint dies meist als legitim. Daher werden selbst in demokratisch verfassten Rechtsstaaten Verstöße gegen die Grundrechte und eine kontinuierliche Entfernung vom Rechtsstaatsprinzip in Kauf genommen. Politik in Krisenzeiten betrifft alle Mitglieder einer Gesellschaft, weil durch sicherheitspolitische Entscheidungen meist die Beschränkung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten verhandelt wird, ohne dass sie sich immer dessen bewusst sind. Krisendiskurse bringen oft die Frage hervor, ob die Wahrung von Freiheitsrechten in Anbetracht der Gefahr, die zur Krise führte, möglich ist. Durch diese diametrale Gegenüberstellung der beiden Elemente wird ihre Unvereinbarkeit impliziert, welche es zu überdenken gilt.
Autokratische Tendenzen bei der Krisenbewältigung am Beispiel Frankreich
Ursache aller Krisen ist ein bedrohliches Ereignis, sei es eine Naturkatastrophe, ein Börsencrash, ein Terrorakt oder eine Pandemie. Um die Normalität wiederherstellen zu können, ist folglich schnelles Handeln gefordert. Angesichts der derzeitigen Gesundheitskrise ist es sinnvoll, einen Blick auf vergangene Krisen und deren Bewältigung zu werfen, um Rückschlüsse auf den Umgang mit künftigen ziehen zu können.
Die am 13. Novembers 2015 verübten Attentate auf das Konzerthaus Bataclan und andere Orte in Paris markierten und legitimierten einen Wendepunkt in der französischen Sicherheitspolitik und sollen daher exemplarisch herangezogen werden. Die politische Krise, die aufgrund mehrerer paralleler Anschläge in der französischen Hauptstadt hervorgerufen wurde, zog die Konsequenz eines fast zweijährigen Ausnahmezustands nach sich. Die Regierung griff auf diese Maßnahme zurück, um die Terrorgefahr möglichst schnell und effektiv eindämmen zu können. Der Ausnahmezustand wurde jedoch mehrmals verlängert und als Mittel zur Gefahrenabwehr eingesetzt. Seine Aufhebung ging mit dem Erlass eines umstrittenen Antiterrorgesetzes einher, das viele Notstandsmaßnahmen in das Gemeinrecht übertrug. Den Behörden stehen demnach weiterhin Befugnisse zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Schließung religiöser Stätten und erweiterte Kontrollmöglichkeiten zu. In demokratisch verfassten Gesellschaften erfordern dermaßen weitgehende Maßnahmen immer nachvollziehbare Begründungen seitens der Regierung. So schlüssig es scheint, dass die Ausrufung des Notstands zu Beginn als notwendige und angemessene Reaktion auf den Terrorakt gewertet wurde, stellt sich dennoch die Frage, wie dieser Zustand über einen so langen Zeitraum legitimiert werden konnte.
Wie die Krise die Demokratie in den Hintergrund rückte
Die politischen und medialen Diskurse rund um den Ausnahmezustand in Frankreich bringen als tragendes Element für seine Legitimierung die existenzielle Bedrohung des Landes hervor. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr dient fast ausnahmslos als Grundlage für die Frage nach Freiheit oder Sicherheit. Dabei folgt die Argumentationsstruktur einem logischen Muster: Das Ereignis, das die Krise verursachte, wird als Beweis für die Existenz einer Gefahr herangezogen, welcher es entgegenzuwirken gilt. Dabei wird die Handlungsaufforderung von Medien, Gesellschaft und Politik meist an die Exekutive gerichtet. In diesem Zusammenhang wird dargelegt, dass Freiheitsrechte zwar einer der Grundpfeiler der Demokratie seien, sie jedoch in Krisenzeiten für die Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung in den Hintergrund rücken müssten. Insbesondere nach so erschütternden Ereignissen wie damals in Paris ist die argumentative Durchsetzung dieser Aussage simpel, weil sie eine zeitliche Begrenzung der Maßnahmen impliziert. Diese Legitimierungsstrategie birgt jedoch zwei problematische Punkte in sich. Durch ihre Gegenüberstellung schließt sie zum einen die Möglichkeit aus, die Elemente „Freiheit“ und „Sicherheit“ zu vereinen und erschwert somit die Forderung nach Lösungsansätzen, die sowohl das eine als auch das andere beinhalten. Symbolisch wird diese Binarität meist als Waage dargestellt, die im Normalfall ausgeglichen ist und ansonsten lediglich die Gewichtung einer „Schale“ zulässt. Des Weiteren wird „Sicherheit“ nie eindeutig definiert, wodurch sich schwer einschätzen lässt, welche Dimensionen die Sicherheitsmaßnahmen umfassen sollen. Da kein potenzielles Ende der Gefahr weiterer Anschläge festgelegt werden kann, lässt sich das Bedrohungsszenario des Terrordiskurses und somit auch die notwendige Privilegierung von Sicherheit (vor Freiheit) theoretisch ins Endlose ziehen.
Dahingegen erscheint der heutige Corona-Notstand zeitlich begrenzt. Nichtsdestotrotz sind schon anhand der vergleichbaren Verwendung von Kriegsrhetorik durch mehrere Staatsoberhäupter bezüglich der Covid-19-Pandemie (Pandemie als Krieg, Virus als Feind) Ähnlichkeiten in der Legitimierungsstrategie der sicherheitspolitischen Maßnahmen erkennbar. Die Verwendung von Kriegsrhetorik ist nicht so harmlos, wie sie zunächst erscheinen mag. Krieg legt nämlich nicht allein einen dringenden Handlungsbedarf oder Ausnahmezustand nahe, sondern wirkt als Plausibilisierungsgrundlage für jegliche – auch autoritäre oder sogar brutale – (Kriegs)Handlungen. Die Kriegsmetapher kann zudem auch über den Ausnahmestand hinaus Anwendung finden. Wenn etwa argumentiert wird, dass die Gefahr vergleichbarer Ereignisse (erneute Anschläge, neuer Virus) selbst nach der Behebung der akuten Bedrohung besteht, wird impliziert, dass es eigentlich kein Ende der Bedrohung gibt, was wiederum eine Unmöglichkeit der Beendigung oder Rücknahme der (Sicherheits-)Maßnahmen nahelegt. Immer mehr Demokratien verfangen sich in dieser Sicherheitsspirale (USA nach 9/11, Frankreich nach dem 13.11.15, etc.), aus der es schwierig ist herauszukommen.
Freiheit trotz Sicherheit?
Die Legitimität von Ausnahmezuständen soll an dieser Stelle nicht prinzipiell hinterfragt werden, sondern vielmehr, wie diese plausibilisiert werden und wie nach ihrer Bewältigung mit den dabei eingesetzten Maßnahmen umgegangen wird.
- Politik und Medien sollten ihre „Krisenkommunikation“ gegenüber der Öffentlichkeit bewusst bedenken. Wenn Politiker:innen einen martialischen Ton wählen, sollte dies von Medien nicht einfach rezipiert werden.
- Unabhängigen Organisationen und Vereinen, die sich für zivilgesellschaftliche Belange einsetzen, sollte besonders in Zeiten der Krise mehr politische und mediale Aufmerksamkeit zukommen. In Frankreich etwa waren sie die ersten, die vor einer dauerhaften Übernahme der Notstandsregelungen ins Gemeinrecht warnten.
- In einer Demokratie ist die Partizipation der Zivilgesellschaft auch während der Krise gefordert. Die Gegenüberstellung von Sicherheit und Freiheit suggeriert einen begrenzten Handlungsspielraum, der sich allein auf die Exekutive beschränkt. Eine Krise bedeutet jedoch nicht, dass sie das Handlungsmonopol (dauerhaft) für sich beanspruchen kann. Krisenbewältigung sollte sowohl von Regierenden als auch von der Zivilgesellschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden.
Über die Autorin
Dyana Rezene studierte Romanistik, Kommunikations- und Kulturwissenschaft. In ihrer Abschlussarbeit analysierte sie den sicherheitspolitischen Mediendiskurs in Frankreich zum Thema Ausnahmezustand. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Angewandten Sprachwissenschaft, Diskurstheorie und -analyse.