„Deine Stimme ist stärker als du denkst!“, „No means no!“, „Stop!“ – diese und weitere Aussagen und Forderungen sind 2022 in der Steiermark (Graz/Seiersberg) im öffentlichen Raum in Form von Graffitis zu sehen gewesen. Entstanden sind sie im Rahmen des 2021 initiierten feministischen Projekts #girlsCan, in welchem mittels inhaltlicher und künstlerisch-praktischer Workshops mit Mädchen und jungen Frauen zur Thematik geschlechtsspezifischer Gewalt gearbeitet wurde. In diesem Beitrag wird die Schnittstelle von (außerschulischer) Jugendarbeit, praktischer Präventionsarbeit zu Gewalt gegen Mädchen und Frauen und Graffiti als Tool der politischen Bildungsarbeit näher betrachtet.
In der (außerschulischen) Jugendarbeit stellt Graffiti ein beliebtes Medium dar, um mit Jugendlichen zu arbeiten. Oftmals werden Graffiti-Projekte im Sinne von Kriminalitätsprävention durchgeführt, indem legale Möglichkeiten geschaffen werden, in deren Rahmen Jugendliche sprayen können, verbunden mit Aufklärung über die rechtliche Situation sowie die Konsequenzen von nicht-legalem Sprayen. Ein besonders erwähnenswertes Good-Practice-Beispiel ist das Projekt „MittwochsMaler“. Dieses besteht seit 2005 in Köln-Bilderstöckchen, befindet sich in der Offenen Tür „Luckys Haus“ und wird unter anderem durch die Stadt Köln finanziert. Jede Woche können Jugendliche zusammenkommen und mit der Unterstützung professioneller Sprayer:innen Skizzen erstellen, sprayen und sich austauschen – alle Angebote sind für die Besucher:innen kostenlos.
Doch auch im Kontext politischer Bildung findet Graffiti breite Anwendung. So wird es etwa genutzt, um demokratische Werte zu vermitteln wie bei „Projekt Graffiti? Respekt!“ oder „Graffiti für Respekt und Toleranz“, oder um gesellschaftspolitische Themen wie Rechtsextremismus, Rassismus (vgl. bspw. Polis, 2014), Gedenkstättenpädagogik (Berg/Danker, 2006), oder EU-Politik (Bruel, Stéphanie/Horst, Daniel, 2014) zu diskutieren. Die Thematik geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Mädchen und Frauen an der Schnittstelle zu künstlerisch-ästhetischer Bildungsarbeit stellt ein weiteres Beispiel dar. Exemplarisch hierfür ist das 2008 initiierte Projekt „Graffiti Pelo fim da violência contra a Mulher“ der brasilianischen Sprayerin Panmela Castro anzuführen, welche Graffiti als Tool nutzt, um gegen Gewalt gegen Frauen zu kämpfen. Im Projekt hat sie bis 2017 regelmäßige Workshops mit 14- bis 19-jährigen Mädchen und Buben durchgeführt – diese bestanden sowohl aus inhaltlichem Lernen und Austausch über Geschlechtergleichheit, Gewalt gegen Frauen und das 2006 in Brasilien eingeführte Maria de Penha-Gesetz zum Schutz vor Gewalt als auch einem gemeinsam entworfenen und umgesetzten Mural. (Temel/Stranzl/Laister, 2022)
Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt das am Institut für Konfliktforschung IKF in Wien 2021 initiierte Projekt #girlsCan. Dieses verschränkt ebenfalls inhaltliche Workshops zum Thema geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit der Erstellung kollektiver Graffitis. Begleitend zum Projekt wurden 2021 wie auch 2022 ein Zine erstellt, im Jahr 2021 wurde das Projekt darüber hinaus in Form eines Kurzfilms begleitet. In den Workshops werden Mädchen und junge Frauen bestärkt, eigene Grenzen bewusst wahrzunehmen und ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. In theaterpädagogischen Rollenspielen wurden gemeinsam Handlungsoptionen gegen Grenzüberschreitungen und Gewalt ausgelotet. Ausgehend von dieser Grundlage werden Wünsche, Positionen und Forderungen künstlerisch ver- und erarbeitet und gesprayt – damit eignen sich Projektteilnehmerinnen aktiv einen Teil des öffentlichen Raums an und gestalten diesen. #girlsCan verfolgt mehrere Ziele:
- Empowerment der Teilnehmerinnen.
- Austausch, Erweiterung und Diskussion von Wissen – Bestärkung darin, sich mit gesellschaftspolitischen Themen und den eigenen Lebensrealitäten kritisch auseinanderzusetzen und diese Auseinandersetzung weiterzutragen bzw. nach außen zu tragen.
- Sensibilisierung für das Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen sowie Menschenrechte
- Diskussion und Erarbeitung von Gleichberechtigungsaspekten hinsichtlich Geschlecht und deren Intersektionen mit anderen Kategorien (Bildung, Herkunft, ökonomischer Status) anhand des Themas Gewalt gegen Mädchen und Frauen.
- Vermittlung neuer Skills, um sich mittels Graffiti auszudrücken. Graffiti ist eine männerdominierte Kunstform, was der spezifischen Förderung und Ermutigung von Mädchen und jungen Frauen, sich Graffiti anzueignen, besonderes Gewicht gibt.
Graffiti(-workshops) als künstlerisch-ästhetische Bildung (Bruel/Horst, 2014) bzw. Medium der politischen Bildungsarbeit birgt viel Potential: Es stellt eine niederschwellige Möglichkeit (außer-)schulischen Lernens dar und eröffnet Raum für gestalterische, kreative wie auch künstlerische Interessen. Auf zwischenmenschlicher Ebene werden soziale Prozesse, Gemeinschaftsgefühl sowie Kooperationsfähigkeit in Gruppen gefördert. Weiters wirkt der gruppenbezogene Prozess bei der Planung und Erstellung eines gemeinsamen Graffitis identitätsstiftend und unterstützt die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und -ermächtigung. Zugleich verkörpert Graffiti eine niederschwellige Form der Partizipation und Auseinandersetzung mit subjektiven Lebenswelten und gesellschaftspolitischen Themen auf lokaler wie auch globaler Ebene. So kann Graffiti als Tool politischer Bildung auch politische Handlungskompetenz stärken, indem beispielsweise Jugendliche individuelle politische Positionen formulieren, sich mit gesellschaftspolitischen Verhältnissen auseinandersetzen und „an der Lösung von gesellschaftlichen Problemen [mitwirken]“ (Krammer, 2008, zitiert nach Brait/Oberhauser/Oberrauch, 2020).
Abschließend kann festgehalten werden, dass Graffiti entlang zahlreicher Faktoren Potential für die künstlerisch-ästhetische/politische Bildungsarbeit aufweist. Projekte wie Graffiti Pelo fim da violência contra a Mulher oder #girlsCan zeigen darüber hinausgehend, wie Graffiti als ein Medium politischer Bildungsarbeit praktisch angewandt und produktiv genutzt werden kann. Good-Practice-Beispiele wie die „MittwochsMaler“ bieten in ihrer institutionalisierten Form stabile Räume, damit junge Menschen sich mit Graffiti beschäftigen können. Basierend auf dem aktuellen Forschungs- und Praxisstand, leiten sich folgende Policy-Empfehlungen und Needs ab:
- Anerkennung der Relevanz und des Potentials von Graffiti-Projekten für Jugendliche durch die Politik
- Bereitstellung legaler Wände und Flächen
- Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen und Evaluationen zur Wirkung von Graffiti-Projekten bei Jugendlichen, insbesondere wenn diese mit der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Thematiken verknüpft sind, um evidenzbasierte Aussagen über das Potential von Graffiti als Medium der politischen Bildungsarbeit treffen zu können.
ÜBER DIE AUTORIN
Brigitte Temel hat Soziologie, Psychologie und Gender Studies an der Universität Wien studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiter:in am Institut für Konfliktforschung in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Hass im Netz, Antifeminismus, Gender & Queer Studies.