Bis Anfang April mussten nach Angaben des UNHCR mehr als vier Millionen Menschen die Ukraine auf der Flucht vor dem russischen Angriffskrieg verlassen. Die europäischen Zivilgesellschaften, aber auch die Mitgliedstaaten reagierten rasch und pragmatisch. Binnen Tagen wurden Versorgungszentren an den Grenzen zur Ukraine eingerichtet, Spenden verteilt und logistische Unterstützung organisiert. Durch die Aktivierung der „Temporary Protection Directive“ (nur auf Deutsch trägt die Richtlinie 2001/55/EG den entmenschlichenden Titel „Massenzustrom-Richtlinie“) können Betroffene vergleichsweise unbürokratisch Schutz, Zugang zur notwendigen Versorgung und zum Arbeitsmarkt erhalten. Hier zeigt sich, was die EU leisten kann – sofern der politische Wille vorhanden ist.
Gemessen an den weltweiten Zahlen ist der Anteil jener, die in Europa Schutz suchen, nach wie vor gering. Weitaus die meisten Geflüchteten halten sich in Ländern des Globalen Südens auf – von insgesamt 82,4 Millionen innerhalb und außerhalb ihrer Länder Vertriebenen hielten sich im Jahr 2020 lediglich 14% in Industrieländern auf. Für die EU ist der Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine allerdings eine erstaunliche Leistung, angesichts der politischen Konflikte, die der wesentlich kleinere Zustrom von Geflüchteten vornehmlich aus Syrien und Afghanistan 2015/2016 heraufbeschwor (zusammengerechnet wurden in den beiden Jahren in den 28 EU-Staaten knapp 2,6 Millionen Asylanträge gestellt).
Tödliche Grenzen
Besonders deutlich wird der Unterschied im direkten Vergleich zum fortgesetzten „Sterben machen“ an den Grenzen, sobald es um nicht-europäische Geflüchtete geht. Nach wie vor finden an der polnischen Grenze zu Belarus „Pushbacks“ statt, bei denen Menschen die Einreise und das Stellen eines Asylantrags schlicht (und rechtswidrig) verweigert wird. Nach wie vor verhungern und erfrieren Menschen aus Kurdistan, Syrien oder Afghanistan direkt vor dem hier neu errichteten Grenzzaun. Es ist richtig, dass Belarus diese Situation aus strategischen Gründen heraufbeschworen hat und sich um das Leid nicht kümmert – wahr ist aber auch, dass die EU diese Toten in Kauf nimmt, weil sie dem politischen Machtkampf dienen.
Noch deutlicher wird die Differenz an den Seegrenzen im Mittelmeer, wo die EU seit 2017 die sogenannte libysche Küstenwache aufrüstet – obwohl bereits vielfach nachgewiesen wurde, dass den nach Libyen Verschleppten Mord, Folter, sexualisierte Gewalt und Sklaverei drohen. Zahlen der International Organisation for Migration (IOM) weisen für den Zeitraum von 2014 bis 2022 mehr als 23.800 im Mittelmeer Ertrunkene aus. Die Dunkelziffer liegt mit Sicherheit höher.
Alle Menschen sind gleich?
Für die unterschiedliche Behandlung von ukrainischen und außereuropäischen Flüchtlingen gibt es vielfältige Gründe: die geographische Nachbarschaft, das Faktum, dass es sich bei den Geflüchteten überwiegend um Frauen und Kinder handelt, während aus weit entfernten Regionen vorwiegend Männer die lange Reise nach Europa schaffen, und vor allem der gemeinsame Feind Russland – all das trägt zur positiven Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten bei. Ein weiterer zentraler Faktor ist allerdings Rassismus – und das Beispiel Mittelmeer zeigt den unterschiedlichen Stellenwert, den Europa dem Leben von Menschen zuschreibt, je nachdem, ob sie als Teil des weißen europäischen ‚Wir‘ betrachtet werden oder nicht. Oft wird behauptet, verstärkte Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern würde den rechten Populismus und Rassismus innerhalb der EU befeuern – ganz so als wäre Rassismus eine unwillkürliche Reaktion auf die Anwesenheit von Migrant*innen. Plausibler ist allerdings ein anderer Zusammenhang: Wie sollten Otto und Ottilie Normalverbraucherin nicht zu Rassist*innen werden, wenn ihnen die liberale europäische Elite täglich vor Augen führt, dass das Leben von nicht-Weißen de facto eben keineswegs gleich viel wert ist, wie das weißer Europäer*innen?
Abhängig von Diktatoren
Problematisch ist diese Politik des Grenzschutzes als Schutz vor Flüchtlingen nicht nur aus ethischen Gründen: Zum einen verletzt sie geltendes Recht – allem voran die Menschenrechte, die keine Abstufung des Rechts auf Leben nach Hautfarbe oder Herkunftsland erlauben. Auch die Verweigerung oder Verschleppung von Seenotrettung oder Pushbacks von Schutzsuchenden an den Grenzen verstoßen gegen internationales Recht. Zum anderen hat die versuchte Auslagerung des EU-Grenzschutzes an Drittstaaten weitreichende Folgen für die betroffenen Regionen insbesondere im nördlichen Afrika. Für die EU selbst schafft die Angst vor Geflüchteten Abhängigkeit von Diktatoren und autoritären Regimen – als prominentestes Beispiel ist hier der Deal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu nennen. Die EU lieferte sich hier einem im eigenen Land und den Nachbarländern kriegführenden autoritären Machthaber aus, wie Lisa Heschl bereits 2017 ausführte. Der belarussische Diktator Lukaschenko scheiterte Ende 2021 zwar mit seinem Erpressungsversuch, den Preis dafür zahlen freilich jene Menschen, die in den Wäldern an der Grenze verhungern und erfrieren – und ein solches Szenario kann sich jederzeit wiederholen.
Für zukünftige Krisen lernen
Nicht zuletzt ist die europäische Abschottungspolitik erschreckend kurzsichtig – getragen von der Idee, dass große Fluchtbewegungen ein Ausnahmephänomen in Reaktion auf Kriege und vereinzelte Katastrophen wären, während sich Migration davon klar abgrenzen und politisch steuern ließe. Beide Annahmen sind schon heute realitätsfremd und nicht zuletzt der Klimawandel macht klar, dass sich diese Fiktion immer weniger aufrechterhalten lässt. So prognostiziert etwa die Weltbank für das Jahr 2050 über 140 Millionen Klimaflüchtlinge für das südliche Afrika, Südasien und Lateinamerika – und auch wenn die Mehrzahl der Menschen innerhalb dieser Regionen flüchten wird, ist es naiv zu glauben, dass diese Entwicklungen an Europa spurlos vorbeigehen werden (siehe dazu auch den Blog-Beitrag von Maria-Angela Brunner und Clarissa Gros).
Ebenso wie Kriegsflüchtlinge sind auch Klimaflüchtlinge nicht von der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst. Von „freiwilliger Migration“ zu sprechen, ist freilich in beiden Fällen gleichermaßen absurd. Das Beispiel des europäischen Umgangs mit den Geflüchteten aus der Ukraine zeigt, dass eine Politik jenseits der Abschottung möglich ist. Das sollte – wie Serena Parekh, Philosophieprofessorin an der Northeastern University in Boston, Massachusetts und Autorin von No Refuge: Ethics and the Global Refugee Crisis) fordert – zum Vorbild für Lösungen für alle Geflüchteten werden.
Empfehlungen
- Eine Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik im Sinne einer Erleichterung des Zugangs ist auch aus Eigeninteresse geboten, wie Alma Stankovic schon 2017 in ihrem Blog-Beitrag ausführte.
- Auf die im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten gemachten Erfahrungen sollte systematisch aufgebaut werden, statt sie als „Ausnahmefall“ ad acta zu legen.
- Voraussetzung für eine der Realität der multiplen Krisen angemessene Politik ist das Ende des institutionalisierten Rassismus, das auch dem europäischen Rechtspopulismus eine wichtige Grundlage entziehen würde.
ÜBER DIE AUTORIN
Stefanie Mayer ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKF in Wien. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, Rassismus und Antifeminismus.