Globale Krisen friedenswissenschaftlich zusammendenken

Jeder Krieg, der stattfindet, ist auch eine Niederlage für die Friedensforschung und zugleich ein Beweis für ihre Notwendigkeit. Ihre Analysen und Handlungsvorschläge konnten den Krieg nicht verhindern, sei es, dass sie nicht adäquat waren, sei es, dass sie nicht berücksichtigt wurden. Aber nun, in Kriegszeiten, d.h. in Zeiten, in denen der stattfindende Krieg in geographischer, kultureller und emotionaler Nähe als uns unmittelbar betreffend empfunden wird, ist ihre Expertise, sollte man meinen, im öffentlichen Diskurs mehr denn je gefragt.

Allerdings scheint im Augenblick eher das Gegenteil der Fall zu sein. „Sind Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Ansätze nicht mehr zeitgemäß?“, schreiben Juliana Krohn und Philipp Lottholz in ihrem Blog. „Dieser Eindruck drängt sich auf angesichts aktueller Debatten um den Ukraine-Krieg und die ihm vorausgegangene Eskalationsspirale, in denen friedenslogische und deeskalative Standpunkte bestenfalls marginalisiert, gemieden und nicht selten als romantisch und weltfremd abgestempelt und bisweilen auch dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet werden.“

Eine der Ursachen dafür ist wohl die zu beobachtende Kriegshysterie (Edgar Morin), auf einer tieferen Ebene aber das Faktum, dass der Krieg alle Streitfragen aufs Äußerste zuspitzt. Ungeklärte Probleme, denen man theoretisch wie praktisch in Zeiten, in denen die Rede über Krieg und Frieden einen gewissen Abstraktheitsgrad hatte, ausweichen konnte, werden jetzt virulent. Die Folge sind emotionalisierte Auseinandersetzungen auch innerhalb der Community der Friedensforschung. Meiner Beobachtung nach gibt es jedoch zugleich viel zu wenig wirklich inhaltliche Debatten zwischen den Kontrahent*innen.

Diese Situation ist der Hintergrund der folgenden vier Blogeinträge. Sie nehmen die jüngste Konferenz der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) Ende März 2023 zum Ausgangspunkt und bewegen sich im Spektrum der „herrschaftskritischen Friedensforschung“. Sie äußern sich kritisch gegenüber dem nicht nur in Deutschland vorherrschenden Mainstream, der den militärischen Sieg der Ukraine in der Abwehr der russischen Aggression als alternativlos sieht. Davon ausgehend stellen sie Reflexionen über die grundlegende Ausrichtung der Friedensforschung an. Das macht ihre Bedeutung aus.

Michael Berndt schlägt vor, die Wurzeln der kritischen Friedensforschung zu rekapitulieren, „um sich aktuellen Entwicklungen stellen zu können, ohne vor ihnen zu kapitulieren.“ Dabei zeigt er zunächst, dass auch in den 1970er Jahren die Frage der Gewalt – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen als heute – für Kontroversen innerhalb der Friedensforschung gesorgt hat. Vor allem aber mahnt er eine in den Anfängen der Friedensforschung stets präsente, heute aber fehlende „historisch materialistische Kritik der politischen Ökonomie“ als unverzichtbare Grundlage ein. „Denn die Veränderung objektiver Interessen und die Abkehr von militärischer Gewalt erscheinen möglich, aber (tragfähig) nur über eine Veränderung der Reproduktionsbedingungen.“

Juliana Krohn und Philipp Lottholz referieren als Ergebnisse eines World-Cafés auf der AFK die Notwendigkeit, „globale Krisen zusammenzudenken, die Klima- und Biodiversitätskrise als Friedensproblem zu verstehen und dafür die Reetablierung von Frieden als Beziehung zur Natur vorzunehmen.“ Im konstruktiven Austausch mit der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen könnte die Friedensforschung neue Bedeutung gewinnen.

Das Auseinanderdriften von Friedensbewegung und Friedensforschung ist auch für Christine Schweitzer eine Ursache der gegenwärtigen Misere. Sie plädiert für mehr praktisches Engagement derer, die Frieden studieren, und umgekehrt mehr Lernbereitschaft bei den Friedensbewegten. „Das Ergebnis wären weniger unsinnige Verschwörungstheorien und mehr Seriosität, die auch im Gespräch mit Andersdenkenden – die man ja überzeugen möchte – von Gewinn sein dürfte.“

Claudia Brunner und David Scheuing suchen nach Wegen, Gewaltaversität, Pazifismus und Antimilitarismus in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie plädieren für eine gründliche Aufarbeitung der Geschichte der Disziplin unter dieser Prämisse und fragen: „Wie kann Antimilitarismus und Pazifismus post- und dekolonial sowie feministisch-intersektional neu artikuliert werden? Kann dies binnenakademisch geschehen oder muss eine solche Aktualisierung über aktive und global vernetzte Friedenspraxis erfolgen?“.

Ich teile und unterstreiche die Anliegen, die diese Beiträge mit einander verbinden, insbesondere

  • den Weg, die Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Mainstream der Friedensforschung nicht als Polemik zu führen, sondern zum Anlass zu nehmen, kritisch und selbstkritisch die Grundlagen der Friedensforschung zu überprüfen
  • in diesem Sinne auch das Bemühen, im kritischen Rückblick auf die Geschichte der Friedensforschung unser Verständnis für das Heute zu schärfen
  • die Kommunikation zwischen Friedensbewegung und Friedensforschung als gegenseitiges Korrektiv wieder zu verstärken
  • die Problematik der Gewaltfreiheit in einem weiteren Kontext anzugehen
  • und vor allem, Friedensforschung transdisziplinär und intersektional an den großen gesellschaftlichen Konfliktlinien auszurichten und integriert zu denken.

 

Das bedeutet in meinen Augen, dass die Friedensforschung zumindest entlang der vier Koordinaten Feminismus – Kritik der politischen Ökonomie – Postkolonialismus – Ökologie auszurichten ist (vgl. Schaubild)

Diese vier Dimensionen beziehen sich auf zentrale, transnationale und globale Konfliktlinien, die zwar überall unterschiedlich ausgestaltet und akzentuiert werden, aber dennoch global anzutreffen sind: die Kritik der Politischen Ökonomie, welche die Gesellschaftsstrukturen und die daraus resultierenden Klassendifferenzen in den Mittelpunkt stellt; der Feminismus als Kritik der Geschlechterhierarchie, die älter ist als die modernen kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen, aber von diesen neu akzentuiert wird; die dekoloniale (postkoloniale) Kritik an globalen Machtverhältnissen, die sich nicht zuletzt auch mit den Geschlechterhierarchien überlappen und Rassismus als ihre Rechtfertigungsideologie hervorgebracht haben; und schließlich die Ökologie, verstanden als kritische Wissenschaft von den Mensch-Natur-Beziehungen, die allen anderen ungleichen Machtverhältnissen zugrunde liegen und diese verstärken. Es sind vier grundlegende Konfliktlinien, die alle gemeinsam bearbeitet werden müssen, um Frieden herzustellen. Positiv formuliert, können sie als Fragen der Gerechtigkeit formuliert werden. Damit ist gesagt, dass alle diese Thematiken nicht nur jeweils einzeln angegangen werden sollen, sondern dass in jedem einzelnen Konflikt die jeweilige Relevanz jeder dieser Dimensionen untersucht und im Zusammenspiel mit den anderen bearbeitet werden muss.

Dies eröffnet auch neue Perspektiven auf den russisch-ukrainischen Krieg. Die schwelende Frage des Pazifismus in Zeiten des Krieges ist damit noch nicht beantwortet, doch sie wird nun in einem neuen und größeren Rahmen gestellt.

 

ÜBER DEN AUTOR

Univ.-Prof. i.R. Werner Wintersteiner, war Gründer und Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. https://wernerwintersteiner.at/